ETH Life - wissen was laeuft

Die tägliche Web-Zeitung der ETH Zürich - in English

ETH Life - wissen was laeuft ETH Life - wissen was laeuft
ETH Life - wissen was laeuft
Home

ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Tagesberichte
Print-Version Drucken
Publiziert: 08.11.2005 06:00

ETH Studio Basel mit neuer Studie
Schweiz in neuem Licht sehen

Sechs Jahre lang haben 150 Studentinnen und Studenten, angeleitet vom Institut Stadt der Gegenwart des ETH Studios Basel, ein Porträt über die Schweiz zusammengetragen. Herausgekommen ist ein aufschlussreiches Werk, das eigentlich an alle Gemeinden gratis abgegeben werden sollte. Denn deren Autonomie ist ein Bollwerk gegen die (urbane) Entwicklung der Schweiz.

Peter Rüegg

Dramatische Dinge hätten sich in der Schweiz in den letzten sechs Jahren abgespielt, sagte Jacques Herzog anlässlich der Buchpräsentation letzten Freitag in Basel. Die Swissair sei nicht mehr, die Schweizer Armee habe sich fast selbst abgeschafft, und das Schweizer Stimmvolk habe die Personenfreizügigkeit angenommen. Das, sagte der Meisterarchitekt und ETH-Professor, werde sich auch physisch niederschlagen in unserem Land, zum Beispiel durch eine grössere Differenz zwischen den Regionen, die von diesen Veränderungen profitieren und von denen, die leer ausgehen.

Bohrungen bringen Licht ins Dunkel

In diesen Rahmen rascher und tiefgreifender Veränderungen stellen die Architekten Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili, Pierre de Meuron und der Geograf Christian Schmid ihre Studie „Die Schweiz – ein städtebauliches Portrait“. Diese sei aus dem Bedürfnis heraus entstanden, die Schweiz zu Beginn des neuen Jahrhunderts genauer und aus neuem Blickwinkel heraus anzuschauen.

Getan haben dies über 140 Studierende und weitere wissenschaftliche Mitarbeiter des ETH Studios Basel. Mit über fünf Dutzend sogenannten „Bohrungen“ zwischen 1999 und 2004 haben sie die Bilder für die neue Betrachtung zusammengetragen und daraus schliesslich ein Gesamtbild gezeichnet, angereichert durch Daten aus der Bevölkerungs-, Pendler- und Arealstatistik. Oft habe die archaische Skizze am raschesten zur Verständigung untereinander beigetragen, so die Autoren im Vorwort.

Diese Studie hat in eine Vorstellung für eine zukünftige Siedlungstopografie der Schweiz geliefert und in ein dreibändiges Werk mit über 1000 Seiten gemündet. Dieses enthalte projektartige Vorschläge, wolle die Schweiz aber nicht verändern. „Provokationen gibt’s genug“, sagte Herzog.

Mythisches Zentrum: eine Brache

Ob provokativ oder nicht. Die Vertreter der Randregionen werden sich wieder die Haare raufen ob der Studie, die betont leichtfüssig, quasi aus dem Handgelenk von Architekten und Studierenden daherkommt. Das Resultat sind jedoch fünf verschiedene Siedlungs-Typologien, die politischen Sprengstoff enthalten, doch die Autoren betrachten diese Typologien als nichts anderes "als die beobachteten Trends und Umwandlungsprozesse“.

Auf der neuen Schweizer Karte nehmen die Randregionen einen prominenten Platz ein. Sie werden „Alpine Brache“ genannt und decken das mythische Herz der Schweiz fast vollständig ab. Diese Alpine Brache ist gekennzeichnet durch wirtschaftliche und demografische Auszehrung - trotz millionenschweren Subventionen. Gebirgsregionen, welche kaum besiedelt sind, Hochalpen oder Gebirgstäler mit Bevölkerungsschwund und geringer Wertschöpfung gehören dazu. Die Studie deckt diese Tatsache nur auf, und überlässt den Politikern die Schlussfolgerung, die heissen könnte: lasst die zum Sterben verurteilten Gemeinden gehen.

Diese Gebiete sind wahrscheinlich die einzigen Zonen des Landes, für welche in der gegenwärtigen Fassung des Urbanisierungsprojekts der Schweiz keine reale Perspektive, geschweige denn eine Funktion umrissen ist, schreiben die Autoren. Und Schmid doppelte nach: „Diese Gebiete stehen heute zur Disposition; mit den klassischen Mitteln der Regionalförderung kommt man da nicht mehr weiter“.

Pulsierende Metropolen

Den Alpinen Brachen stehen die drei grossen Metropolitanregionen gegenüber, Orte voller wirtschaftlicher Kraft, in denen das Leben pulsiert, die international vernetzt und bekannt sind: Basel-Freiburg-Mulhouse, Zürich und Lausanne-Genf. Sie verfügen über mehrere grosse Kernstädte als Zentren, und sie bilden ein Gefüge von Städten, verstädterten Gemeinden sowie periurbanen Gebieten und greifen auch über Staatsgrenzen hinweg. Die Gemeinden im Umland haben ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit beinahe aufgegeben und richten sich aus auf die Entwicklung der ganzen Region.

Die abgeschwächte Form der Metroplitanregion ist das Städtenetz. Dazu zählen die Autoren etwa die Stadt Bern und ihr Umfeld. Städtenetze entwickeln sich laut Geograf Christian Schmid „ökonomisch langsamer“ und sie sind weniger stark global vernetzt. Bern bilde mit den Städten Burgdorf, Thun, Solothurn, Biel und Neuenburg einen Städtekranz, der durch die S-Bahn verknüpft sei. Dies sei ein einziger grosser urbaner Raum, und die urbane Qualität müsse durch die Vernetzung gestärkt werden.


weitermehr

Die Thesenkarte der Schweiz zeigt, wo noch Potenzial für eine künftige urbane Entwicklung vorhanden ist. (Bild: Copyright ETH Studio Basel) gross

Fast zum Typus Grossstadt zählen die Autoren der Studie die Alpinen Resorts. Schmid: „Klassische Tourismusgebiete werden in der Hauptsaison zu global cities“. Ein Beispiel hierfür ist Davos. Dieses wird besonders während dem "World Economic Forum" zu einer Grossstadt, international vernetzt, bedeutend, um in der Zwischensaison beinahe wieder dörflich zu werden und in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Stille Zonen als Ausgleich

Zwischen Städtenetzen und Metropolitanregionen haben die Autoren aber immer noch Stille Zonen gefunden. Regionen also, die bisher von der Urbanisierung respektive von der Eingliederung in die Städtenetze und Metropolregionen verschont geblieben sind, grüne Löcher im urbanen Gewebe. In ihnen finden sich keine lokalen Zentren und die Gemeinden besitzen eine gewisse Unabhängigkeit. Die meisten dieser Stillen Zonen sind heute Naherholungsgebiete für die Städte. Sobald sich jedoch Städter in alten Bauernhäusern einnisten, Freizeiteinrichtungen gebaut und Strassen ausgebaut werden, ist es um die Stille geschehen.

Gemeindeautonomie in Frage gestellt

Die Studie richtet sich vor allem gegen eines: die Gleichmacherei in der Schweiz. Jede Gemeinde ist, nach Ansicht der Autoren, ein Miniuniversum, wo alles auf kleinstem Raum vorhanden sein muss. Jede Kommune will Industrie- und Gewerbezonen, Wohnzone, Landwirtschaft, eine Mehrzweckhalle und eine Flaniermeile im Dorfkern. Jede Gemeinde spielt mit um die Gunst der guten Steuerzahler. Ergebnis davon ist, dass es heute in der Schweiz, vor allem im Mittelland, einen dichten urbanen "Nebel" gibt, dem die städtebaulichen Konturen fehlen.

So ist die Studie wie sie vorliegt auch eine Kritik an der überbordenden Gemeindeautonomie – an der letztlich wohl auch die Umsetzung scheitern würde. Denn bei der blossen Konzeption in Buchform soll es nicht bleiben. Das ist zumindest der Wunsch, den die Autoren bei der Präsentation des Werks äusserten. Dieses Projekt habe von Beginn an eine politische Dimension gehabt, sagte ETH-Professor Marcel Meili: Man wolle die Ergebnisse auch über die Fachkreise hinaus diskutieren.


Das Buch und seine Urheber

Das Buch zur Studie „Die Schweiz – ein städtebauliches Portrait“(1) umfasst drei Bände und eine Themenkarte. Band eins enthält eine Einführung in die Methode und die Arbeitsweise, fasst die Ergebnisse der Untersuchung zusammen und stützt diese mit theoretischem Hintergrund ab. Band zwei ist eine kurze Geschichte des Territoriums der Schweiz, und Band drei zeigt die detaillierten Portraits der fünf urbanistischen Zonen. Eine Thesenkarte mit den Zonentypen bündelt die Ergebnisse in konzentrierter Form.

Entstanden ist das Werk am ETH Studio Basel, Institut Stadt der Gegenwart. Dieses besteht seit 1999. Die geistigen Väter sind die Architekturprofessoren Marcel Meili, Roger Diener, Jacques Herzog und Pierre de Meuron. Ziel des ETH Studios Basel ist es, vom anonymen Grossbetrieb, der an der ETH Zürich herrscht, thematisch und räumlich unabhängig zu sein. Im Herbst des gleichen Jahres startete der „Garagenbetrieb“ in Basel in eine dreijährige Testphase. Die ersten 20 Studierenden nahmen die Arbeit am Grossprojekt „Die Schweiz – Ein städtebauliches Porträt“ auf. Nach Ablauf der Versuchsphase war das Projekt noch immer nicht abgeschlossen. Das ETH-Präsidium beschloss, aus dem Garagenbetrieb ein Institut zu bilden, das Teil des neuen Netzwerks Stadt und Landschaft (NSL) wurde, dem ehemaligen Institut für Orts-, Regional- und Landesplanung. Seit Herbst 2003 ist das ETH Studio Basel / Institut Stadt der Gegenwart ein offizielles Institut der ETH Zürich. Mittlerweile arbeiten dort vier Professoren, ein Geografen, drei Oberassistenten und zwei weitere Mitarbeiter.




Fussnoten:
(1) Diener, R. et al. (2005): Die Schweiz – ein städtebauliches Portrait, 1020 Seiten, Birkhäuser-Verlag für Architektur, Basel



Sie können zu diesem Artikel ein Feedback schreiben oder die bisherigen lesen.




!!! Dieses Dokument stammt aus dem ETH Web-Archiv und wird nicht mehr gepflegt !!!
!!! This document is stored in the ETH Web archive and is no longer maintained !!!