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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 12.05.2004 06:00

Ambivalenz

Von Christoph Küffer

Eben bin ich von einer Kreuzschifffahrt durch die Amiranten zurückgekehrt. Die Amiranten sind eine Gruppe verlassener Sandbänke irgendwo zwischen meinem Arbeitsort Mahé und der fernen Koralleninsel Aldabra. Von Nähe ist Aldabra ein Ort, an dem die Natur verrückt spielt: grasende Riesenschildkröten, flugunfähige Rallen, Mangrovenwälder mit Rotfusstölpeln und Fregatvögeln in den Baumkronen und Haien zwischen den von den Gezeiten überfluteten Luftwurzeln. Auf Flugaufnahmen erscheint das quallenförmige Atoll unwirklich und vergänglich. Aldabra treibt im Indischen Ozean als eine der letzten Illusionen von wilder, fremder Natur. Ich bin der magischen Insel zwei Schifffahrtstage entfernt geblieben. Einige Male habe ich geglaubt, am Horizont ihre Silhouette zu erahnen. Ich habe dabei von den goldenen Zeiten des 19. Jahrhunderts geträumt, als Naturforscher, unterwegs mit dem Schiff, Abenteurer und Entdecker waren.

Darwin hat während seiner Weltumseglung vor Aldabra geankert. Alexander von Humboldt hat quer über den Atlantik die Urwälder Südamerikas erreicht. Wallace ist durch das weite Inselreich Indonesiens geirrt. Alle haben sie schwere Kisten gefüllt mit unbekannten Pflanzen und Tieren nach Hause geschickt, welche die Taxonomen wohl gleichzeitig fasziniert und beunruhigt haben. Kaum waren die Fantasiewesen des Mittelalters als Aberglauben entlarvt, tauchten real verrücktere und unwahrscheinlichere Wesen aus allen Erdteilen auf. Fiebriges Ordnen und Klassifizieren waren die Folge. Ich stelle mir die Naturforschung der damaligen Zeit in einer idealen Schwebe zwischen erahntem Wissen und unruhigem Staunen vor. Wie morgens auf dem Schiff, wenn am Horizont die Andeutung einer neuen Insel zu erkennen ist.

Das Bild des Schiffs war in der Rhetorik der Naturwissenschaften früh bedeutend. Francis Bacon, der Urvater der modernen Naturwissenschaften, illustrierte in 1620 sein wissenschaftsphilosophisches Hauptwerk mit einem Schiff, das zwischen den Säulen des Herkules, Symbol für die Grenzen des Wissens, ins offene Meer steuert. Eine Fahrt ins Unbekannte, mit dem Vertrauen von Christoph Kolumbus, dass jenseits des Meeres neues Land, neues Wissen auftauchen wird. 350 Jahre später wurde die Erde aus der Perspektive der ersten Raumschiffe im All als Ganzes überblickbar. Die Erde wurde selbst zum „Raumschiff Erde“, eine planetarische Maschine, die es zu steuern gilt. Hans-Joachim Schellnhuber schrieb neulich in Nature von den Umweltwissenschaften als Erdsystemanalyse, welche es ermöglichen soll, das aus dem Gleichgewicht gebrachte sozio-ökologische System Erde, durch Strudel und an Untiefen vorbei, in einen neuen stabilen Zustand zu schiffen. Die Wissenschaftler sitzen im Kontrollraum und geben die Anweisungen.

Die magische Insel Aldabra lässt sich fern am Horizont erahnen. gross


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Kolumnist Christoph Küffer untersucht auf den Seychellen die Biologie invasiver Gehölzpflanzen. gross

Die segelnden Naturforscher sind als Umweltwissenschaftler im Computersimulationen-gesteuerten Raumschiff Erde zurückgekehrt. Mich erfasst dabei eine gewisse Wehmut und Verunsicherung. Ich höre die Schiffsratten knabbern. Ich habe auf dem Kreuzschiff, im Anblick einer fernen Insel am Horizont, das ambivalente Gefühl von erahntem Wissen im Bewusstsein der Fehlbarkeit geschätzt. Vielleicht war es wieder nur ein Wolkengebilde. Unter der Meeresoberfläche, das Unheimliche, das Irrationale; die Hammerhaie, die Feuerfische, und die Tiefseekraken. Ich hätte ewig in diesem Abstand vom Festland treiben könne. Wenn nötig hätte ich ein allfälliges Leck mit einem Stück Treibholz zugenagelt. Umweltwissenschaften als Bricolage. Ich glaube nicht an die unsinkbare Titanic.


Zur Person

Palmen, azurblaues Meer, und tropische Urwälder gehören zu seinem Arbeitsalltag. Seit zwei Jahren forscht Christoph Küffer, Doktorand am Geobotanischen Institut der ETH, auf den Seychellen zur Biologie invasiver Gehölzpflanzen. Daneben arbeitet er im Umweltministerium und als Berater verschiedener Umweltschutzorganisationen. Zudem betreut er ein "seed sustainability"-Projekt zu nachhaltigem Tourismus.

Als Küffer 1994 ein Studium der Umweltnaturwissenschaften begann, hätte er nicht gedacht, dass er 10 Jahre später immer noch an der ETH arbeiten würde. Heute engagiert er sich in den Bereichen Transdisziplinarität und Nachhaltigkeit. Nach dem Studium hat er ein Jahr am Collegium Helveticum an der ETH verbracht; in dieser Zeit hat er auch mit Kollegen die Projektplattform "seed sustainability" aufgebaut.

Schreiben war schon öfters eine Ausflucht aus der Objektivität der Wissenschaften. Als Student war Küffer Redaktor der Studierendenzeitschrift "der NerV". Im Moment arbeitet er nebenamtlich als Redaktor des Naturschutz-Newsletters "Kapisen" in den Seychellen. Deshalb freut er sich nun auch auf seine "ETH Life"-Kolumne. Die abendliche Strandlektüre des abonnierten New Scientist wird ihm aktuelles Material liefern.






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