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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 17.04.2002 06:00

Warum Krieg?

Von Helga Nowotny

Ich erinnere mich noch gut an das Gefühl grosser Enttäuschung, das mich vor vielen Jahren nach dem Lesen des schmalen Bandes mit dem obigen Titel beschlich. Die Verfasser des Briefwechsels waren zwei der berühmtesten Wissenschaftler ihrer Zeit; sie schrieben einander in ihrer Muttersprache, deutsch. Ihr Thema ist in den beiden obigen Worten zusammengefasst, die seither nichts von ihrer brennenden Aktualität verloren haben. Dazu gekommen sind freilich neue Formen, in denen sich menschliche Aggressivität, Hass und Ohnmacht manifestieren und die auch auf diesem Gebiet beeindruckenden technischen und wissenschaftlichen Fortschritte. Der Physiker Albert Einstein wandte sich im Juli 1932 aus seiner Sommervilla in Caputh bei Potsdam mit jener Frage an den Wissenschaftler, von dessen vertiefter Kenntnis des menschlichen Trieblebens' er sich wichtige Einblicke versprach, nämlich an Sigmund Freud. Einsteins Frage war klar und eindeutig formuliert: Gibt es einen Weg, die Menschen von dem Verhängnis des Krieges zu befreien?

Was als längerfristiges Projekt geistiger Zusammenarbeit beabsichtigt war, endete abrupt nach dem ersten Antwortschreiben Freuds. Dieses enthielt die Zusammenfassung der wesentlichen Thesen des Autors über das menschliche Triebleben, unter Betonung des Todes- oder Destruktionstriebes. Ansonsten enthält der Brief viel Zustimmung für Einsteins Thesen, doch wenig darüber hinaus Führendes. Der tief sitzende kulturelle Pessimismus, der daraus spricht, ist vielerorts Bestandteil der humanwissenschaftlichen Forschungsagenda geblieben - sehr im Gegensatz zur fehlenden Scheu führender Naturwissenschaftler, immer wieder grosse 'zivilisatorische Fragen' aufzuwerfen und auf Antworten zu drängen, wenn auch die Fragestellung selbst naiv erscheinen mag.

Sind wir also erneut beim Graben der zwei Kulturen angelangt? Nein. Die sozialwissenschaftliche Konfliktforschung vermag heute sehr viel mehr Aufschlüsse über menschliches Verhalten unter Bedingungen von Extremsituationen zu vermitteln als zur Zeit von Sigmund Freud. Ansatzweise gibt es interdisziplinäre Forschungsvorhaben zu Aggressivität (mit fliessenden Grenzen zur Evolutionsbiologie) und ebenso differenziert zu betrachtenden wie interessanten Ergebnissen. Doch vor allem gilt es, die verschütteten Schnittstellen eines weiterführenden Gesprächs zwischen den Wissenschaftsdisziplinen über Fragen zu aktivieren, die uns alle bewegen. Es mögen Fragen sein, die in dieser Form nirgends in den durch disziplinäre Arbeitsteilung und forschungspolitisch subtil ausbalancierten Forschungsprogrammen und -prioritäten vorkommen - und uns dennoch etwas angehen sollten.

Was die Human- und Sozialwissenschaften dazu beitragen können, ist die ihnen eigene Art der Beobachtung, Beschreibung und Erklärung der sozialen Welt. Dazu gehört ein guter Anteil von Reflexivität, die Fähigkeit, das Beobachtete und zu Erklärende auf sich selbst und die gegenwärtigen Bedingungen sowie auf den historischen Wandel von Begriffen, Einstellungen, Verhalten und Werten anzuwenden. Wie die Vergangenheit erlebt und verstanden wurde - und mit welchen Folgen - wird zum Schlüssel eines analytisch geschärften Zugangs zur Gegenwart.


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helga nowotny
Helga Nowotny, Professorin für Wissenschaftsforschung an der ETH und Leiterin des Collegium Helveticum. gross

In ihrem Buch "The March of Folly" zeichnet die Historikerin Barbara Tuchman ein präzises Bild der Gesamtheit der Informationen nach, die den politischen und militärischen Entscheidungsträgern in der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zur Verfügung standen. Das Erschreckende dabei ist die Blindheit und Selektivität im Umgang mit diesen Informationen. 'The March of Folly' führte geradewegs in den Abgrund.

Wahrscheinlich ist die Fähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, eine sehr eingeschränkte oder die Annahme, dass man daraus lernen könne, schlichtwegs falsch. Doch das enthebt uns nicht der Verpflichtung, auch als WissenschaftlerInnen mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln - in der Diktion Einsteins - "der beim gegenwärtigen Stand der Dinge wichtigsten zivilisatorischen Frage" nachzugehen und uns von der Tatsache, dass "die heissen Bemühungen um ihre Lösung bisher in erschreckendem Masse gescheitert sind", nicht abschrecken zu lassen.


Zur Person

"Tolle Arbeitsbedingungen und eine internationale Atmosphäre, die in Europa ihresgleichen sucht", umschreibt Helga Nowotny die Trümpfe der ETH. Seit 1995 ist sie, die in Wien Jura und an der Columbia University Soziologie studierte und später an der Wiener Uni das Institut für Wissenschaftstheorie leitete, Professorin für Wissenschaftsforschung und -philosophie an der ETH. Und seit 1998 führt sie als Nachfolgerin von Adolf Muschg das Collegium Helveticum in der Sternwarte, den schweizweit einmaligen Think Tank, der die Forschung sich selbst zum Thema werden lässt. "Die Forschung muss raus aus den Labors, wenn sie sich von der Gesellschaft nicht entfremden will", lautet eine ihrer Kardinalbotschaften. Ihre Mitbegründung der Stiftung "Science et Cité" ist sichtbares Zeichen dafür. Eine weitere ihrer Botschaften: "Wissenschaft muss sich politisch einmischen". Auch dafür liefert Helga Nowotny gleich selbst das Beispiel: Im September 2001 wurde sie in den Rat der Weisen des EU-Forschungskommissars Philippe Busquin berufen.






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