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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 02.07.2003 06:00

Post-Akademische Wissenschaft

Von Barbara Orland

Als zu Beginn der 1960er Jahre die Debatte zwischen den eher normativ ausgerichteten Wissenschaftstheoretikern und den mehr deskriptiv orientierten Wissenschaftshistorikern einsetzte, war die akademische Welt noch in Ordnung. In dieser Auseinandersetzung, in deren Verlauf Paul Feyerabend seine erkenntnistheoretische Position des „Anything goes“ entwickelte, prallten zwar Denktraditionen aufeinander und es ging um nicht weniger als das akademische Überleben einer der einflussreichsten philosophischen Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts – den sogenannten Logischen Empirismus und seine Spielarten. Dennoch pflegten die Kontrahenten beider Seiten die Verhaltensregeln der akademischen Welt nicht in Frage zu stellen. Das Instrumentarium des Streites waren Begriffe und Methoden, die es zu präzisieren und in bezug auf die Strenge des jeweiligen Argumentes zu überprüfen galt. Allen gemeinsam war das Ziel, den Erkenntnisfortschritt in den Wissenschaften, hauptsächlich den Naturwissenschaften, zu erklären. Dazu suchte man das gelehrte Gespräch an angenehmen Orten und veröffentlichte in beidseits bekannten Journalen. Obgleich provokativ und mit weitreichenden Konsequenzen für die Erkenntnistheorie der Folgezeit, verliefen die Auseinandersetzungen dennoch in eingeschliffenen Bahnen. Die formale Struktur eines disziplinär organisierten kognitiven Wissens blieb unangetastet.

Wie anders stellt sich die akademische Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts dar. Bestimmte methodische Folgerungen Feyerabends, die heute unter dem Begriff „Konstruktivismus“ firmieren, sind zwar noch Gegenstand regelrechter „Science Wars“. Im grossen und ganzen diskutiert Alma Mater jedoch nicht mehr den Methodenpluralismus, sie lebt das „Anything goes“. Damit sind die institutionellen Strukturen und Arbeitsmittel wissenschaftlicher Arbeit in den Vordergrund gerückt. Wenn heute vom Wissenschaftswandel die Rede ist, dann geht es immer häufiger um die Formen der Wissensproduktion und nicht mehr nur um neue Erkenntnisse. Die Erfahrung lehrt, dass diese der Wissenschaft so lange nicht ausgehen werden, wie mit jeder beantworteten Frage neue entstehen und jede gewonnene Einsicht wieder Unwissenheit erzeugt. Hingegen vorbildlos scheint die technische Revolutionierung der Arbeitsmittel zu sein, die in den letzten Jahrzehnten die Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Arbeit massiv verändert hat und erhebliche Auswirkungen auf die Umgangsformen zeitigte.

Wissenschaftliche Kommunikation und Kollaboration haben mit digitalisierter Lehre und Forschung, mit E-mails, homepages, mailing lists, web forums, e-journals oder digital libraries ihre geschichtlich gewachsene Form innerhalb kürzester Zeit radikal umgestülpt. Alltagswörter wie „Schreiben“, „Publizieren“, „Recherchieren“ oder „Disputieren“ haben ihren vermeintlich überzeitlichen, unhistorischen Charakter verloren. Wissen mutiert zum modularisierten „content“, Klagen über den Informationsüberfluss reissen nicht ab. Jederzeit online zu sein, ist selbstverständlich geworden, während es andererseits schon wieder hip ist, die Informationsflut zu filtern, damit die Mailbox nicht überquillt.

Studenten stehen heute nicht nur vor einem in seinem Zusammenhang schwer durchschaubaren Themenangebot, das eng an die Forschungsinteressen der Lehrenden gekoppelt ist. Zusätzlich steigt der Aufwand für die Erlernung der Kulturtechniken „Schreiben“ und „Lesen“. Aufwand und Eleganz in der Formatierung der Texte sind längst zum eigenständigen Problem geworden, eines, welches immer weniger in Verbindung mit dem vermittelten Inhalt steht. Gleiches gilt für die Veröffentlichung eines Textes. Die Multiplikation der Publikationsmöglichkeiten verdrängt die Frage nach der Qualität des Mitgeteilten. Qualitätskriterien sind eine Angelegenheit der Interpretation. Mit der Anzahl der Publikationen sinkt die Notwendigkeit, die für publikationswürdig gehaltenen Forschungsergebnisse durch einen breiten, disziplinären „peer review“-Prozess abzustützen.


Zur Person

Sie betreibe die Geschichte der Technik als "historische Konfliktforschung", sagt Barbara Orland, seit 1999 Oberassistentin am ETH-Institut für Geschichte. Zuvor lehrte und forschte sie vor allem an der TU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum sowie am Deutschen Museum München. Zur Technikgeschichte kam sie über ihre Doktorarbeit zur Sozial- und Technikgeschichte der Wäscherei seit dem 18. Jahrhundert. So weit gefasst ihre Interessen sind: sie kreisen alle um das Thema "Technisierung des Privaten durch Medizin- und Biowissenschaften". - Was macht die Technik denn so konfliktträchtig? Neue Technologien bringen oft das Werte- und Wahrnehmungsgefüge ins Wanken, sagt Barbara Orland - man nehme bloss die heutige Stammzell- und Klondiskussion mit ihren unabsehbaren Weiterungen.




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Barbara Orland, Oberassistentin am ETH-Institut für Geschichte

Die zunehmende Medialisierung der Wissenschaft hat unter Wissenschaftssoziologen das Schlagwort der „Post-Akademischen Wissenschaft“ aufkommen lassen. Viele, oft uneinheitliche Beobachtungen werden darunter gefasst. Einigkeit besteht darüber, dass die Vernetzung zahllose neue, an die Stelle der althergebrachten Disziplinen tretende Kontexte schafft, mit der Folge, dass die Disziplinen ihre Orientierungsfunktion für die Forschung verlieren. Vor allem dort, wo in Anwendungskontexten, d.h. im Hinblick auf einen vorgestellten Nutzen und Klienten gearbeitet wird, werden eigene methodische Vorgehensweisen und neue institutionelle Strukturen geschaffen. Diejenigen, die unmittelbar an der Problemlösung beteiligt sind, bestimmen hier zumeist darüber, was als Erkenntnisfortschritt gelten soll. Da es sich hierbei oft um politische und ökonomische Akteure handelt, diese aber andere Kriterien als wissenschaftliche Gemeinschaften haben, führt dies zu einer verstärkten Politisierung der Wissenschaften, wie der Soziologe Peter Weingart meint.

Damit einher geht die Beobachtung, dass die Produktion systematischen, formalisierbaren Wissens in andere institutionelle Bereiche der Gesellschaft ausserhalb der Wissenschaft reicht. Gemeint ist damit nicht nur die Entstehung ausserakademischer Forschungseinrichtungen, die sich um spezielle Themen (Umwelt, Gesundheit, gesellschaftliche Problemgruppen) gebildet haben, sondern vor allem die ausserordentliche Medienpräsenz der Wissenschaften. Längst werden nicht mehr nur aktuelle Fragen der Wissensproduktion mit Hilfe der Medien in die Öffentlichkeit transferiert und dort verarbeitet. Umstrittene Forschungsgebiete, die ethische Probleme aufwerfen, werden weit darüber hinausgehend in öffentlichen Foren der politischen Meinungsbildung verhandelt. Hier gewonnene Einsichten wirken dann zurück an die Orte der genuinen Wissensproduktion. Wie auch immer sich im Einzelfall das Verhältnis zwischen Wissenschaft und breiter Öffentlichkeit darstellt, die Abhängigkeit der Wissenschaft von den Medien ist gestiegen. Das zeigt sich nicht zuletzt am gesteigerten Medienbewusstsein der Wissenschaften selbst. Jede wissenschaftliche Institution verfügt heute über Kommunikationsabteilungen, die nicht mehr nur der Presse Rede und Antwort stehen, sondern selber bewusstes Themenmanagement in den Medien zu betreiben versuchen.

Dass wir uns momentan in einer radikalen Umbruchphase der Wissenschaft befinden, ist unübersehbar. Was genau sich ändert, was diese Veränderungen bedeuten, und vor allem, welche Richtung die Wissenschaftspolitik einnehmen soll, ist damit noch keineswegs entschieden. So bleibt abzuwarten, ob die beobachteten Phänomene wirklich eine grundlegende Veränderung der Wissenschaft bewirken werden. Eine Zunahme anwendungsorientierter Forschung zu konstatieren, weist noch keineswegs auf ein neues Phänomen hin. Aus historischer Perspektive lässt sich anfügen, dass industriell finanzierte Forschungslaboratorien oder die Vermarktung universitären Wissens zu den grundlegenden Merkmalen der modernen Wissenschaft gehören. Und auch die enorme Spezialisierung innerhalb gegebener Disziplinen ist ein Prozess, der schon zu früheren Zeiten problematisiert wurde und die Sehnsucht nach einer neuen Einheit der Wissenschaften hervorgerufen hat. Die Geschichte der Kybernetik kann als ein solcher Versuch gedeutet werden.

Ausserdem sind die meisten Standards der akademischen Forschung noch keineswegs ausser Kraft gesetzt. Nach wie vor ist die akademische Welt ständisch organisiert, werden alte Besitzstände verteidigt und Nobelpreise für herausragende Leistungen verteilt. Selbst Wissenschaftler in aufgabenspezifisch konfigurierten Forschungsprojekten mit unmittelbarem Anwendungsbezug bleiben ihren in der Ausbildung erworbenen Mitgliedschaften in Fachgemeinschaften treu. Und ohne Harmonisierung von Messwerten, technischen Normen und Datenformaten wird auch weiterhin eine transdisziplinäre Kommunikation nicht möglich sein. Viele Indizien sprechen dafür, dass mit den neuen Formen der Wissensproduktion eben doch nicht revolutionäre Veränderungen der traditionellen Wissenschaft beschrieben sind, sondern lediglich spezifische institutionelle Veränderungen, die mit den historisch gewachsenen Strukturen verschmelzen.




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