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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 18.10.2006 06:00

Palaver in Polytikon

Leonhard Kleiser

Heute muss ich Euch eine Geschichte erzählen, die ich letzte Woche in der Cantina von Reto nach seinem zweiten Glas 96er Barolo erfahren habe - ihr werdet es kaum glauben können. Reto, eingeborener Zürcher, weiss immer bestens Bescheid und spricht ausgezeichnet französisch, worum ich ihn beneide. Seine Informationen bezieht er aus der Züri-Ziitig, der internationalen Presse, vom Internet und vor allem von seinem weitverzweigten Beziehungsnetz. Reto ist neugierig, lebhaft, gesprächig und eigentlich meistens hellwach, allerdings träumt er recht viel und hat auch sonst eine reiche Phantasie.

Er habe, so Reto, im Traum an der Uni im Rahmen der laufenden Ringvorlesungen einen Vortrag des Zürcher Stadtarchäologen Dr. Dr. Schaufelberger (vulgo „Schufeli“) zum Thema „Neue Erkenntnisse zu Irrungen und Wirrungen der Hochschulreformen des frühen 21. Jahrhunderts – der Beitrag der Futurarchäologie“ – gehört. Der Schufeli habe voller Begeisterung von einem kürzlich angelaufenen Grabungsprojekt berichtet. „Scho hüt chan ich Ihne säge, mir händs do mitere mittlere Sensation ztue“. Ein Raunen ging durch den fast vollbesetzten Hörsaal. Man sei bei Grabungen auf den Hügeln über der Limmat gegenüber dem Lindenhof auf seltsame Fragmente gestossen, die man mit grösster Vorsicht geborgen und nun zu entziffern begonnen habe. Leider seien die Funde stellenweise definitiv unleserlich und die Texte, das müsse er zu diesem Zeitpunkt in aller Deutlichkeit betonen, seien noch keineswegs gesichert, von einer überzeugenden Deutung ganz zu schweigen. Als Rosettastein habe sich der glücklicherweise schon in den ersten Tagen der Grabungskampagne gefundene Eingangspassus eines Textes erwiesen, den man in ähnlicher Form bereits aus der klassischen Literatur kenne (1). Zweifellos handle es sich bei dem Fund um den Bericht eines wohlinformierten Chronisten der Ereignisse jener turbulenten Jahre. Und er liess im Saal Kopien verteilen, von denen Reto ein zerknittertes Exemplar aus seiner Tschopentasche kramte und mir vorlas.

„Nous sommes en 200x après Jésus-Christ. Toute l’ Helvétie est occupée par les Romains Lémaniques. Toute ? NON ! Un village peuplé d’ irréductibles Alamans résiste encore et toujours à l’ envahisseur. Et la vie n’est pas facile pour la Garnison de Légionaires Romains de camp retranché de Petibonum sous le commandement de Capitaine Ernest …“ - Hier erst gelang es mir, Retos Redefluss zu unterbrechen - ich verstünde nur Bahnhof, er solle mir das doch bitte ordentlich ausdeutschen. So erfuhr ich, was jener Chronist weiter berichtet habe.

Der Ernst der Lage sei rasch klar geworden, als die Velotruppe mit ihren Drahteseln im Zürcher Hafen gelandet sei und der Capitaine mit seinem Häuflein noch vor Wintereinbruch die Schaltstellen des widerspenstigen Dorfs Polytikon besetzt habe. Als Hintergrund müsse man wissen, dass auf Ende 2003 die 110 Jahre lang bestehende ruhmreiche Velotruppe der Armee offiziell abgeschafft worden, aber insgeheim und an den parlamentarischen Kontrollgremien vorbei im Lager Petitbonum eine schlagkräftige, als Freizeitsportler getarnte Velo-Kampftruppe, die Equipe Vélo Petitbonum (EVP), aufgebaut worden sei, von denen der Capitaine ein Kommando befehlige. (Inzwischen sei auch durchgesickert, dass die als Gesundheitsförderung getarnte, vom Capitaine aktiv unterstützte Aktion „Bike to Work“ einer Sichtung und Rekrutierung vielversprechender Nachwuchstalente für die EVP diente.)

Der Capitaine habe von seinem General Alexandre Lelong und von Oberst Patrice Loup-Garou die strikte Order, das widerspenstige Polytikon nun endlich in den Griff zu bekommen und nach romanischem Vorbild kreuz- und querwinklig zu restrukturieren. Anders wäre die überfällige Übernahme dieses altmodischen Gemeinwesens mit all seinem Gerümpel nicht innert nützlicher Frist zu bewerkstelligen. Es sei gar nicht nötig, den Polytikern erst langatmig Gründe zu erklären. Viel effizienter sei es, das zeitgemässe SFEL-Prinzip (shoot first, explain later) anzuwenden, insbesondere da man natürlich nichts finden könne, wo gar nichts faul sei. Andernfalls hätte man nur unnötige Zeitverluste und am Ende eine schlechte Presse (da sei man doch wirklich schlauer als Feldherr Rummy). Auch habe man dem Capitaine eines ganz nachdrücklich eingeschärft: die Aktion wäre dem Untergang geweiht, würde er sich von den Fragen oder Klagen der Polytiker erweichen lassen. Schon Odysseus’ Gefährten hätten sich vor den Sirenen bekanntlich nur dadurch retten können, dass er ihnen die Ohren mit Wachs verstopft habe – Ohren zu und durch, heisse jetzt das Gebot der Stunde.

Er, Loup-Garou, dränge den Capitaine auf einige rasche surgical strikes, man wisse doch inzwischen, wie das gehe. Seine Geduld sei am Ende, er müsse jetzt Taten sehen. Seine Vorgesetzten hätten ihm selbst ein Ultimatum gestellt: „alea iacta est“. Schliesslich habe er, Loup-Garou, ja noch Grösseres vor und könne sich einen Tolken in seinem Curriculum Vitae, und dazu noch wegen einer vergleichsweisen Lappalie, nicht leisten. Er habe dem Capitaine ausserdem erst kürzlich in vertrautem Kreis aus dem Kapitel „Guerre des Alamans“ seines Memoiren-Manuskripts vorgelesen, das er im Geiste Gajus Julius Caesars zu schreiben sich genötigt sah, da auf eine Geschichtsschreibung, die man nicht selbst verfasst habe, doch kein Verlass sei. Das Kapitel beginne geschichtsträchtig mit den Worten: „Helvetia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Ticinesi, aliam Alamanni, tertiam qui ipsorum lingua Romani, nostra Lemani victoriosi et gloriosi appellantur.“ Victorieux – vous avez compris? Aus der Geschichte lernen, heisst siegen lernen: veni, vidi, vici! Rector sum et Gubernator - ihr sollt keine anderen Rektoren mehr neben mir haben! Als der Capitaine dann auch noch den Wappenspruch „AUT CAESAR AUT NIHIL“ über Loup-Garous Kaminsims habe aufleuchten sehen, habe er endgültig verstanden, wo der Hammer hängt.


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Temporärer Identitätswechsel: Unterm Narrenkostüm steckt "ETH Life"-Kolumnist Leonhard Kleiser, ETH-Professor für Strömungslehre am Institut für Fluiddynamik.

So sei ihm also nichts anderes übrig geblieben, als eine Strategie auszuarbeiten und deren Umsetzung in Angriff zu nehmen. Habe früher die Infanterie die Hauptlast der Angriffe getragen, sei es heute, wo kaum noch jemand zu Fuss gehen wolle, eine moderne Version der leichten gepanzerten Artillerie mit Namen Corporate Cannoneers (CC). Und so seien denn, wie uns der Chronist berichtet, mit der Besetzung harte Zeiten für die Polytiker angebrochen. Sie scharten sich um ihren gewählten Häuptling Majeszenobix und die weise Zauberin Miraculix (deren landesuntypische Namen auf mächtige gallische Fürsten- bzw. Druidendynastien zurückgehen sollen).

Nächtelang hielten sie Rat, was in ihrer bedrohten Lage zu tun sei, Monat um Monat wurde beraten, sie liessen sich formell vernehmen, es wurden Hunderte von Papierseiten lange Eingaben gemacht, Tausende von Stunden lang diskutiert, Delegationen von Parlamentären zum Capitaine geschickt und Palaver um Palaver abgehalten. Dieser sagte immer fleissig, das fliesse ja alles ein, und liess seine leichte Artillerie wieder eine Salve lauter wohlklingender Verlautbarungen verlautbaren. Doch das Herz des Capitaine sei, zum völligen Unverständnis der Polytiker, verstockt geblieben. Die weise Zauberin, die von dem Wachs nichts wissen konnte, habe es mit einer psychologischen Erklärung versucht: „Man hört nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Ohren unhörbar“. Majeszenobix’ Hund Idefix habe derweil stundenlang vor sich hingejault. „Was wott er denn?“ habe Miraculix gefragt. „Er sagt: Die spinnen, die Lemanier“ habe Majeszenobix ihr nur lakonisch zugeraunt.

An dieser Stelle blickte der Schufeli von seinem Manuskript auf: „So wiit für hüt“, und er erklärte noch umständlich, wie schwierig die weiteren Grabungen und die Entzifferungen sein würden. Nachdem Reto seine Erzählung geendet hatte, war er ganz einsilbig geworden. Er machte ein finsteres Gesicht und blickte ins Ungewisse. Offenbar konnte er zur späten Stunde Traum, Phantasie und Realität nicht mehr klar auseinander halten. „Gömmer gopferdeckel“ brummte er schliesslich und stapfte hinaus in die Nacht. – Deshalb, seht es mir bitte nach, kann ich Euch für heute nicht mehr berichten. So können wir Heutigen nur hoffen, dass das Ende unserer Geschichte damals weder für die tapferen Polytiker noch für die unglücklichen Velodromeure zum Schluss no ganz lätz usecho isch.


Zum Autor

„Mich fasziniert, dass es in meinem Forschungsgebiet möglich ist, ein scheinbar regelloses chaotisches Geschehen – nämlich die fast überall vorkommende Turbulenz – für praktische Anwendungen beherrschbar zu machen; und dies mit zunehmendem Erfolg“, sagt Leonhard Kleiser, seit 1994 Professor für Strömungslehre am ETH-Institut für Fluiddynamik. Sei es bei der Strömung um Autos oder Flugzeuge, durch Turbinen oder Pipelines, bei Prozessen in der Erdatmosphäre, im Erdinnern oder im Weltall: Viele Ingenieure und Wissenschaftler müssten sich irgendwann mit Turbulenz auseinander setzen, sagt Kleiser. Zur Klärung der Grundlagen arbeitet sein Team einerseits mit enorm aufwendigen Computersimulationen, andererseits entwickelt es neue Modellkonzepte für künftige praktische Strömungsberechnungen.

„Unsere Grundlagenarbeit hat in Bezug auf die industrielle Anwendung einen Vorlauf von fünf bis zehn Jahren“, sagt Kleiser. Gleichwohl geht es hier auch um Probleme, die heute schon unter den Nägeln brennen. Die Gruppe untersucht derzeit beispielsweise intensiv, wie Strömungslärm beim Start von Düsenjets entsteht und sich ausbreitet.




Fussnoten:
(1) R. Goscinny, A. Uderzo: Astérix Le Gaulois. Hachette, 1961 .



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