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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 21.03.2007 06:00

Fortschritt

Michael Hampe

Die ETH-Geschichte von David Gugerli heisst „Die Zukunftsmaschine“. Und im Geburtstagsjahr schmückte sich die Schule mit dem Slogan „Welcome Tomorrow“. Bei „Zukunft“ und „Morgen“ kann man an vieles denken, meist fällt uns dabei aber der Fortschritt ein. Was hat es mit dem auf sich?

In Werner Herzogs Film „Fitzcarraldo“ von 1982 versucht Brian Sweeney Fitzgerald mit Kautschuk-Handel Geld für den Bau einer Oper in Manaus aufzutreiben, damit Carusos Stimme nicht nur von der Schellack-Platte, sondern leibhaftig im Dschungel erklingt. Zu diesem Zweck will er einen Dampfer über einen Berg ziehen, so dass er jenseits der Stromschnellen eines Flusses Kautschuk-Bäume abernten kann. Indianer, die er auf seiner Fahrt trifft, mit denen er sich aber nur rudimentär verständigen kann, helfen unter Einsatz ihres Lebens merkwürdigerweise, das Schiff über den Berg zu bringen. Als das geschafft ist, kappen die Eingeborenen nachts die Taue und lassen den Dampfer, den sie für ein heiliges Gefährt halten, durch die Stromschnellen flussab treiben, um auf einer göttlichen Fahrt in eine bessere Welt zu gelangen.

Fitzgerald, seine Leute und die Indianer ziehen buchstäblich am selben Strang. Doch ihre Sache ist jeweils etwas anderes. Fitzcarraldo will Geld als Mittel zum Zweck (Opernbau). Seine Mitfahrer wollen einfach reich werden. Die Indianer wollen sich mit dem göttlichen Gefährt selbst erlösen. Diese verschiedenen Interessen passen zufällig an einer Stelle zusammen: als das Schiff über den Berg gebracht werden muss. Hätte Fitzgerald den Indianern sein Ziel vorschreiben wollen oder die Indianer ihm ihres, sie hätten das Hindernis kaum überwunden.

Die Ziele von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft sind nicht dieselben. Beim Streben nach Kapital, Macht und Erkenntnis verfolgen verschiedene „Indianerstämme“ unterschiedliche Zwecke. Trotzdem unterstützen sie sich in ihrem Streben gegenseitig: Reichtum kann Erkenntnis zugute kommen, Erkenntnis wirtschaftlichen Erfolg befördern und eine florierende Wirtschaft und Wissenschaft können Politikern Macht bringen. Doch dass alle gemeinsam an einem Strick ziehen, bedeutet nicht, dass sie dasselbe anstreben. Wollte man Wissenschaftlern die Ziele der Wirtschaft oder Politik als das, um das es ihnen eigentlich zu gehen habe, vorschreiben, würden sie kaum mitmachen und umgekehrt für die anderen.

Es gibt den Fortschritt der Menschheit oder auch der Schweiz nur als eine abstrakte Worthülse, weil es kein konkretes Ziel des Strebens der Menschheit als ganzer oder aller Schweizer gibt, sondern nur verschiedene Vorhaben einzelner, verschiedener Gruppen, die eventuell wie symbiotisch agierende Organismen zueinander passen, vielleicht aber auch nicht. Wenn sie in ihrem Handeln zueinander passen und sich befördern, müssen sie die Ziele, zu denen sie fortschreiten wollen, nicht teilen, ja noch nicht einmal gegenseitig kennen. Vor allem das wissenschaftliche Ziel, etwas ganz Neues zu erkennen, werden die nicht teilen, die Bilanz- und Wahlziele haben. Vielleicht betrachten sie sogar ihre Ziele gegenseitig als Wahnvorstellungen. Für die Indianer mag die Stimme Carusos und das Geld eine Verrücktheit sein, Fitzcarraldo wird vielleicht die Erlösungshoffnung der Eingeborenen für Irrsinn halten. Es soll Wissenschaftler geben, die Kapitalakkumulation als kollektiven Wahn betrachten und vermutlich gibt es Wirtschaftsführer, für die jahrelange Laborarbeit zur Identifikation eines Neurotransmitters als eine merkwürdige Besessenheit darstellt.


Zum Autor

Wissenschaften ihre Exaltiertheiten vorzuführen, erachtet Michael Hampe als eine seiner Aufgaben. Der ETH-Professor für Philosophie sieht sich dabei auch in der Tradition von Diogenes von Sinope, der Platons Definition des Menschen als zweibeiniges, nacktes Tier mit einem gerupften Hahn ad absurdum führte, oder in der, die von Paul Feyerabend abstammt, der auf die Geschichtlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis hinwies und Erkenntnistheorie als eine "bisher unerforschte Form des Irrsinns" karikierte.

Die Einbettung von Erkenntnissen in ihre historischen Umstände ist Hampe auch bei seiner Lehrtätigkeit ein Anliegen. Er ist auch der Auffassung, dass der Versuch, wissenschaftlichen Erfolg planen zu wollen, eine Kreativitätskapitulation darstellt. Dass man sich mit solchen "närrischen" Ansichten auch immer wieder Feinde schafft, nimmt Hampe als Folge der "intellektuellen Redlichkeit in Kauf“.




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Michael Hampe, ETH-Professor für Philosophie am Zentrum "Geschichte des Wissens" und "ETH Life"-Kolumnist. gross

Die Idee des Fortschritts ist von Karl Löwith als die Verweltlichung der christlichen Erlösungshoffnung aufgefasst worden. Erst die christliche Welt kennt den Gedanken, dass eine ursprünglich - im paradiesischen Zustand - perfekte Schöpfung ins Unheil gerät (durch den Sündefall), dann aber durch den Messias bzw. am Jüngsten Tag vom Bösen erlöst wird. Diesen Gedanke habe die wissenschaftlich-technische Bewegung der Neuzeit von der Religion getrennt: Jetzt erlöse sich die Menschheit durch wissenschaftliche Erkenntnis und deren geschickte technische Anwendung selbst von den Übeln des Hungers, der Krankheiten und des Todes. Tatsächlich glaubten Philosophen und Wissenschaftler wie Rene Descartes im 17. Jahrhundert an eine solche Entwicklung.

Während im Kontext der jüdischen Stammesreligion, in der Gott einen Bund mit einem Volk schliesst, und der christlichen Weltreligion, die sich an jeden einzelnen Menschen richtet, mehr oder weniger klar ist, wer auf welche Weise von was erlöst wird, worin also der spirituelle Fortschritt für den einzelnen und das geheiligte Volk besteht, ist der Adressat des wissenschaftlich-technischen Fortschritts unklar. Auch ist unklar, ob sich das Streben der Menschheit nach „Selbsterlösung“ durch Erkenntnis und Technologie mit der Erlösung durch ein göttliches Wesen verträgt. Viele konservative Christen, beispielsweise in den USA, und viele fundamentalistische Anhänger des Islam scheinen das nicht zu glauben. Man darf das symbiotische Arrangement von Interessengruppen nicht als selbstverständlich voraussetzen.

Inzwischen hat sich aber die aus Europa stammende Wissenschaft und Technologie über den ganzen Globus verbreitet und überall transportiert sie implizit das heute mit ihr verbundene Fortschrittsdenken in Kulturen, die es ursprünglich gar nicht kannten. In Asien, etwa in Japan, scheint das gut zu funktionieren: Ahnenkult, Buddhismus, Wissenschaft, Technik und der Kapitalakkumulation scheinen dort fast problemlos integrierbar. In anderen Weltgegenden ist dies weniger der Fall.

Es mag sein, dass sich Spielarten von Erkenntnisnormen wie Wahrheit, Objektivität und Rationalität in allen menschlichen Kulturen finden lassen. Diese Normen begannen sich in Europa im antiken Griechenland jedoch schon ungefähr 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung zu entwickeln, lange bevor von irgendwem an religiösen oder wissenschaftlich-technischen Fortschritt gedacht wurde. Es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, dass diese Erkenntnisnormen nicht notwendigerweise mit der Hoffnung auf den Progressus der Menschheit verbunden sind. Wer an das eine glaubt, muss nicht auch das andere für richtig halten. Wer die nach-newtonische Physik für richtig hält, muss nicht an die Selbsterlösungskompetenz der Menschheit glauben. Und wer an den Fortschritt der Menschheit, beispielsweise durch die Ausbreitung einer Religion glaubt, muss nichts von moderner Wissenschaft und Technologie verstehen. Zu meinen, Erkenntnis, Technik und Fortschrittsdenken würden eine notwendige Einheit bilden, ist ebenso ein Irrtum, wie der (in den USA verbreitete) Gedanke, Demokratie und die kapitalistische Marktwirtschaft gehörten zusammen. Ein Blick in die Geschichte kann jeden leicht darüber aufklären, dass es sich hier um voneinander unabhängige kulturelle Gebilde handelt, die auch miteinander in Konflikt geraten können, so wie am Ende das Streben der Indianer und das von Fitzcarraldo.




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