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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 18.04.2007 06:00

Schule

Michael Hampe

„Es wird eine neue Schulleitung gewählt.“ „Die Schule wird 150 Jahre alt.“ - Nach ein paar Monaten hat man sich als Neuankömmling an der ETH an den zunächst wie ein understatement wirkenden Ton dieser Redewendung gewöhnt. Und nach ein paar Jahren ist „unsere Schule“ so selbstverständlich wie „unsere Universität“. Die Akademie bringt immer wieder vermeintliche Vornehmheiten sprachlicher Zurückhaltung hervor. Am Ort meiner Habilitation wurde nicht gefragt „Worüber geht denn ihre Vorlesung?“, sondern: „Was lesen Sie diesmal?“ oder ganz urtümlich korrekt: „Worüber lesen Sie jetzt?“ Man ging auch nicht zur Fakultätssitzung, sondern „auf die Fakultät“. Sitzungen hatten dort Politiker und Unternehmer abzusitzen, aber nicht Gelehrte.

Es liessen sich allerlei Betrachtungen über diesen der Jägersprache äquivalenten Jargon Hochschulangehöriger anstellen. Wie alle lingualen Absonderlichkeiten, die nicht, wie Termini von Fachsprachen, durch neue Erfahrungen und Gegenstände nötig werden, sind solche Redeweisen vor allem soziales Distinktionsmittel. Dass das Bett des Hasen „Sasse“, seine Augen „Seher“ und seine Hinterbeine „Sprünge“ zu nennen sind, fällt niemanden ein, der nicht „dazugehört“. So entlarvt sich der Nichtwaidmann schon dadurch als Aussenseiter, dass er über die Tiere und ihre Teile „unkorrekt“ spricht. Waidmänner bekräftigen durch diese Sondersprache dagegen ihr Zusammengehörigkeitsgefühl. Als ich im letzten Jahr einem deutschen Kollegen, ohne weiter auf meine Wortwahl zu achten, berichtete, dass wir Probleme in der Schulleitung haben, fragte er zurück. „Hast Du jetzt auf ein Gymnasium gewechselt?“ Er gehört nicht dazu.

Vermutlich geht die Redeweise von der ETH als Schule auf den „Bericht über den Entwurf zu einem Reglemente für die Eidgenössische polytechnische Schule“ vom 21.6.1854 zurück (1), so dass sie ihre Vornehmheit aus dem Archaischen bezieht, das bei polytechnischen Einrichtungen freilich noch nicht so arg weit zurückreichen kann, aber immerhin schon taugt, um sich heute auch sprachlich von der Universität zu unterscheiden. Wann dann aus der polytechnischen Schule „das Poly“ und wann daraus schlicht „die Schule“ wurde und wie sich diese Redeweisen sozialdiskriminativ zu einander verhalten, weiss ich allerdings nicht.

Weil wir schon bei Archaismen sind, ist es interessant, zu sehen, was „Schule“ ursprünglich bedeutete. Hierüber berichtet Konrad Liessmann in seiner „Theorie der Unbildung“: „Schule lässt sich über das lateinische schola auf das griechische scholé zurückführen und meinte ursprünglich ein „Innehalten in der Arbeit“.“ Liessmann kommentiert diese Etymologie so: „Die Weisheit der Sprache ist oft eine grössere, als es sich unsere sprachvergessene Kultur träumen lässt: Eine Schule, die aufgehört hat, ein Ort der Musse, der Konzentration, der Kontemplation zu sein, hat aufgehört, eine Schule zu sein. Sie ist eine Stätte der Lebensnot geworden. Und an dieser dominieren dann die Projekte… und Vernetzungen. Zeit zum Denken gibt es nicht.“ (Konrad Paul Liessmann, Theorie der Unbildung, Wien 2006, S. 62)


Zum Autor

Wissenschaften ihre Exaltiertheiten vorzuführen, erachtet Michael Hampe als eine seiner Aufgaben. Der ETH-Professor für Philosophie sieht sich dabei auch in der Tradition von Diogenes von Sinope, der Platons Definition des Menschen als zweibeiniges, nacktes Tier mit einem gerupften Hahn ad absurdum führte, oder in der, die von Paul Feyerabend abstammt, der auf die Geschichtlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis hinwies und Erkenntnistheorie als eine "bisher unerforschte Form des Irrsinns" karikierte.

Die Einbettung von Erkenntnissen in ihre historischen Umstände ist Hampe auch bei seiner Lehrtätigkeit ein Anliegen. Er ist auch der Auffassung, dass der Versuch, wissenschaftlichen Erfolg planen zu wollen, eine Kreativitätskapitulation darstellt. Dass man sich mit solchen "närrischen" Ansichten auch immer wieder Feinde schafft, nimmt Hampe als Folge der "intellektuellen Redlichkeit in Kauf“.




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Michael Hampe, ETH-Professor für Philosophie am Zentrum "Geschichte des Wissens" und "ETH Life"-Kolumnist. gross

Nun glaube ich zwar nicht wie Liessmann, dass „die Sprache“ weise ist, noch wie Martin Heidegger, dass Etymologien den Weg zur ursprünglich wahren Einsicht darstellen. Trotzdem ist es interessant, sich den Zusammenhang zwischen Schule und Musse, der hier offenbar ans Licht kommt, deutlicher vor Augen zu führen. Das deutsche „Musse“ ist die Übersetzung des lateinischen „otium“. Die Verneinung von „otium“ ist „negotium“. Dieses negierende Wort bezeichnet wiederum das Ladengeschäft, die Not und die Mühe, die einem aufgeladene Aufgabe, also die mit Belastungen verbundene, den Lebensunterhalt betreffende und meist unfreie Geschäftigkeit. Ein römischer Patrizier hatte mit negotium nichts zu tun. Deshalb war er jedoch nicht tatenlos. Er widmete sich neben der Politik und planenden Landwirtschaft dem otium in Wissenschaft oder Kunst. Dieses nicht von mühseliger Geschäftigkeit gekennzeichnete Tätigsein ist der Ausgangpunkt, das Positivum, von dem die andere Art des Tätigseins als lästige Arbeit negierend abgeleitet wird. (Heute ist die Arbeit der sprachliche Ausgangspunkt, das Positivum, hat man sie nicht, ist man arbeitslos.) Die Schule ist in diesem Sinne, wenn Liessmann Recht hat, ein Ort, der den Schülern zumindest zeitweise, den Lehrern und Forschern dauerhaft ein mühefreies und nicht geschäftiges Tätigsein erlaubt. Das bedeutet nicht, dass man sich an Orten des otium nicht anstrengt und nichts Nützliches zustande bringt.

Im Gegenteil, die Anstrengungen von Menschen, die in Wissenschaft oder Kunst Grossartiges hervorbringen, mögen ungleich grösser sein als die von Personen, die sich mühevoll in einem kleinen Laden ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Auch können die Ergebnisse der Musse sehr nützlich sein. Denn vielen dienen und viele erfreuen wissenschaftliche Erkenntnisse und künstlerische Leistungen. Wer dagegen allein damit befasst ist, für sich selbst zu sorgen, kann nicht immer auf diese Weise für die Allgemeinheit da sein. Ähnlich ist es auch im Sport: Hochleistungssportler, die mit ihrem Sport nicht den Lebensunterhalt bestreiten, mögen sich körperlich mehr plagen als Schwerarbeiter. Doch tun sie es aus freien Stücken und um des Ruhmes willen, nicht weil sie dazu gezwungen sind. Die Anstrengung der Musse ist eine selbst gewählte oder freie, die aber auf Allgemeines zielt. Nie ist sie von aussen vorgegeben und partikular. Arbeit im Sinne von negotium ist dagegen unfrei, durch Lebensnot einzelner oder sonst wie von aussen diktiert. In der Rede von Freiheit der Forschung und Lehre ist dieses Pathos freien Tätigseins für die Allgemeinheit jenseits partikularer Lebensnot noch erhalten.

Jetzt wäre es interessant zu fragen, ob wir, wenn wir von „unserer Schule“ sprechen, noch eine Schule in diesem Sinne meinen. Wie läse sich ein Forschungsbericht, der hervorhebt, das letzte Jahr als eines der freien Musse sei besonders fruchtbar gewesen, es brachte viele neue Erkenntnisse, die niemand erwartet hat, weil sie niemand in Auftrag gab? Das wären wohl zu viel wohl distinguierte Archaismen. Den meisten käme die Rede von der „freien Musse“ wie ein Eingeständnis von Faulheit (lat. ignavia) vor, weil otium, die freie, aber dennoch angespannte Anstrengung nicht mehr recht verständlich ist. Die Schule von 1854, die ETH-Angehörige heute noch im Munde führen, lässt sich nicht „noch ehrwürdiger“ machen, indem man sie griechisch-römisch deutet. Auch macht sich die Abschätzigkeit, mit der der frei tätige römische Patrizier offenbar herabblickte auf die armen Händler und die Sklaven, die sich abmühen mussten, um ihr Brot zu verdienen und die in der Unterscheidung von otium und negotium mitschwingt, in der egalitären und vom Handel geprägten Schweiz gar nicht gut.

Die Frage nach der Möglichkeit freien Tätigkeitseins, das auf Allgemeines zielt, kann man jedoch immer noch stellen, vor allem, wenn man gleichsam als Angehöriger eines Wissenschaftsadels nicht bloss an einer Universität, sondern an „der Schule“ lehrt und forscht. Diese Frage in Erinnerung zu rufen, dazu mag der Ausflug zu antiken Bedeutungswurzeln von „Schule“ nützen.


Fussnoten:
(1) vgl. ETHistory: www.ethistory.ethz.ch/texte/1854Bundesblatt.pdf



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