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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 22.01.2003 06:00

Die letzten Tage vor der Abgabe

Von Philip Ursprung

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Selten spüre ich den Unterschied zwischen Theorie und Praxis am Departement Architektur so deutlich wie in den zwei, drei Wochen, die gegen Ende jedes Semesters der sogenannten "Abgabe" vorausgehen. Der Hörsaal, wo ich eben noch auf gespannte Hörer rechnen durfte, leert sich wie das Deck eines sinkenden Dampfers. Die Studierenden, die eben noch voller Wissendurst an meine Tür klopften, um eine Frage zu stellen, die neugierig in den Dias wühlten und mich in den Fluren nach Tipps für Literatur baten, tragen nun sperrige Planrollen und Mappen und eilen zielgerichtet an mir vorbei in Richtung Modellwerkstatt und Computerraum. Einige bewegen sich nur noch mit Kaffeebecher in der Hand. (In Berlin, wo manche Vorlesungen ohne Unterbrechung drei Stunden dauern, gehört dies ebenso zur Ausrüstung wie Stift und Papier, aber in Zürich, wo alle 45 Minuten der Gong ertönt, ist es ein Zeichen des Notfalls.) Und fast alle haben, wenn sie mich grüssen, diesen Blick, der sagt: "Nun gilt es ernst, keine Zeit mehr für Theorien".

Es ist erst der Auftakt, die Ruhe vor dem Sturm, der sich in den letzten Tagen vor der Abgabe entladen wird. Dann brennen die Neonlichter, die ja nur noch leuchten, wenn sich jemand im Raum bewegt, auf dem Hönggerberg die ganze Nacht. Pappkartons halten die Eingangstüren offen.


Zur Person
Philip Ursprung ist seit 2001 Professor für Geschichte der Gegenwartskunst am Departement Architektur. Dabei handelt es sich um die erste Förderprofessur des Nationalfonds für Kunstwissenschaft. 1999 habilitierte sich Ursprung an der ETH mit einer Studie zur amerikanischen Land Art, einem Gebiet, das zuvor lange Zeit ,Terra incognita' war. Als kunstgeschichtlicher Solitär an der ETH - wünscht man sich da nicht manchmal den Wechsel zur "reinen" Geisteswissenschaft? "Im Gegenteil", meint Philip Ursprung. "Mit meinem Fokus auf architektonische und territoriale Fragen stosse ich bei Kollegen und Architektur Studierenden auf offene Ohren und Augen. Die Lehre empfinde ich als sehr problemorientiert, frei und partnerschaftlich". Und dies würde ihm, wäre er ein ,herkömmlicher' Kunstgeschichts-Professor, fehlen.



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Philip Ursprung, Inhaber der SNF-Förderprofessur für Geschichte der Gegenwartskunst.

Pizzakuriere irren mit dem Handy am Ohr durch die Nacht und suchen verzweifelt den Weg nach "HIP C 18". Aus den Zeichensälen dröhnt Musik. Autokonvois mit deutschen Kennzeichen missachten das Fahrverbot und bringen Nachschub an Bier und Kaffeemaschinen.

Obwohl ich mich nicht darum reissen würde, auf dem verklebten Spannteppich des HIL unter eidgenössischem Normmobiliar zu übernachten, so beneide ich die Studierenden doch um diese anarchischen Momente, die der kollektive Zeitdruck und die gemeinsame Arbeit produziert. Natürlich gibt es auch in der Praxis der Kunsthistoriker Deadlines - sogar fortwährend. Aber es sind einsame Kämpfe, die alleine vor dem Bildschirm gekämpft werden und denen nichts Heroisches eignet. Kein Leimgestank benebelt das Hirn, keine Spraydosen fliegen durch die Gegend, keine Pizzen werden um 3 Uhr früh geteilt. Was ist ein verspätet geliefertes Buch oder eine verlorene Fussnote gegen ein Styropor-Modell der Neugestaltung von Tokyo, das nach Hunderten von Arbeitsstunden durch auslaufenden Verdünner innerhalb von Sekunden in Nichts zusammenschmilzt?

Wenn die Schlacht vorüber ist, werde ich zur Schlusskritik wieder dabeisein dürfen. Aber, was immer ich dort auch erzählen werde, ich weiss: Das Wichtigste habe ich verpasst.




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