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Rubrik: Tagesberichte |
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Gratwanderung zwischen Überwachung und Unsicherheit Datenschnüffler oder Schutzengel? |
Die meisten Menschen sind sich gar nicht bewusst, wie stark sie überwacht werden. Cumulus- und Supercard, Schnüffelprogramme im Internet und bei Mobiltelefonen sowie immer mehr Kameras nisten sich in der Privatsphäre der Bevölkerung ein. Auch die ETH setzt zunehmend auf Videoüberwachung. Eine aktuelle Preisverleihung diskutiert die Gratwanderung zwischen Überwachungs-Staat und Unsicherheit. Von Jakob Lindenmeyer und Richard Brogle "Alle 6 Minuten wird eingebrochen... Schützen Sie sich!", warb diese Woche ein ganzseitiges Inserat in der grössten Schweizer Zeitung für den Kauf von Überwachungs-Kameras. Schützen will sich auch die ETH, insbesondere nach der kürzlich erfolgten Bombendrohung. (1) "Unsere rund 70 Überwachungskameras schützen Menschen und Sachen", erklärt der ETH-Sicherheits-Chef Beat Müller den Einsatzzweck und ergänzt vielsagend: "Wenn Sie wüssten, was an der ETH so alles gestohlen wird..." Doch die zunehmende Überwachung stösst auch auf Kritik: "Überwachungs-Kameras halte ich generell für das falsche Mittel gegen Kriminalität", meint beispielsweise der 25-jährige ETH-Student Matthias Geiser, der sich in seinem Mathematik-Studium auf Sicherheits- und Verschlüsselungs-Themen spezialisiert hat. Statt Kameras propagiert Geiser, vermehrt die Bürotüren abzuschliessen. Dabei erhält er Unterstützung durch den kantonalen Datenschutzbeauftragten, der Videoüberwachung nur als letztes Mittel sieht (siehe Kasten).
Insbesondere nach den Terroranschlägen in den USA sehnen sich jedoch viele nach Sicherheit und nehmen dafür auch Eingriffe in ihre Privatsphäre in Kauf. So stört sich beispielsweise die 28-jährige Studentin Nadia überhaupt nicht an den Kameras in den ASVZ-Gewölben unter dem ETH-Hauptgebäude: "Ich bin im Gegenteil sehr froh um die Überwachungs-Kameras, denn sie verhindern, dass mein Garderobenkasten ausgeraubt wird." Auch Sicherheits-Chef Müller bestätigt: "Früher hatten wir täglich mehrere Diebstähle, doch nach der Installation der Videoüberwachung hat sich das auf ein erträgliches Mass reduziert." Und an die Adresse der Überwachungs-Gegner meint er: "Fragen Sie doch mal ein Diebstahl-Opfer: Die sind alle froh, wenn wir der Polizei belastendes Material geben können." Auch Überwachungs-Gegner Geiser ist ein Diebstahl-Opfer: Vor der ETH-Mensa wurde kürzlich sein Rucksack samt Diplomarbeit gestohlen. Geiser: "Trotzdem fordere ich jetzt nicht eine Video-Überwachung der Mensa, sondern lasse meinen Rucksack im abgeschlossenen Büro." Doch auch Geiser sieht einen Nutzen gewisser Kontrollen: "Es muss nicht alles anonym sein, aber die Überwachung soll klar transparent gemacht werden, beispielsweise durch ein Hinweis-Schild mit Informationen zur Handhabung und Speicherung der Video-Daten."
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Keine Auskunft zu Video-Daten Doch von einem solchen Schild will Sicherheits-Chef Müller nichts wissen: "Jeder, der mit offenen Augen durch die Welt geht, kann die Kameras ja sehen." Auch zu den Daten gibt sich Müller bedeckt: "Über die Speicherung von Video-Daten geben wir keine Auskunft, denn daraus könnten allfällige Täter Nutzen ziehen." Ausserdem regle sich das Speicherproblem ja von selbst, da eine längerfristige Bildspeicherung eine Unmenge von Daten produzieren würde, was nicht im Interesse des Sicherheitsdienstes liege. "Aufklärung ist nötig!" fanden der Student Matthias Geiser und der ETH-Doktorand Felix Rauch vom Institut für Computersysteme. Zusammen mit Gleichgesinnten organisieren sie die Verleihung der "Big Brother Awards" für die "grössten Schnüffelratten" in der Schweiz. Dadurch wollen sie die Diskussion über Privatsphäre, Überwachung und Datenschutz in die breite Öffentlichkeit tragen. "Viele wissen gar nicht, dass sie in Dutzenden von Datenbanken gespeichert sind und ihre Bewegungen immer stärker überwacht werden", begründet Rauch seinen Aufklärungseifer. Geiser ergänzt: "Ich finde es problematisch, wenn man aufgrund der zunehmenden Überwachung sein soziales Verhalten in der Öffentlichkeit ändern muss. Das ist klar eine Beschränkung meiner persönlichen Freiheit." Der gläserne Mensch Als völlig unverhältnismässig kritisiert Geiser insbesondere grossflächige Videoüberwachungen, wie beispielsweise auf jedem Stockwerk der neuen Chemie-Bauten auf dem Hönggerberg. Felix Rauch warnt auch vor dem zukünftigen Einsatz von Bilderkennungs-Software, um festzustellen, wer wann wo war: "Wenn diese Informationen noch mit Datenbanken verknüpft werden, dann haben wir wirklich den gläsernen Menschen." Gerade im momentanen Klima der Unsicherheit nach den Terroranschlägen in den USA und angesichts des Kriegs in Afghanistan sei Kritik an unnötiger Überwachung wichtig, finden die beiden. Denn, so Geiser, "Überwachungs-Politiker" nutzten jetzt die Gunst der Stunde und stellen Forderungen wie die Auswertung der Bewegungsdaten von Mobiltelefonen oder DNA-Datenbanken der Gesamtbevölkerung. Darüber informieren Rauch und Geiser heute Abend zusammen mit dem pensionierten Datenschutzbeauftragten Odilo Guntern an der "Orwell-Party" mit "Big Brother Awards" im Kulturzentrum Rote Fabrik (Details unter www.bigbrotherawards.ch).
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Literaturhinweise:
Fussnoten:
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