ETH Life - wissen was laeuft

Die tägliche Web-Zeitung der ETH Zürich - in English

ETH Life - wissen was laeuft ETH Life - wissen was laeuft
ETH Life - wissen was laeuft
Home

ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Tagesberichte
Print-Version Drucken
Publiziert: 22.01.2004 06:00

Ende der Diskussion? Wissenschaft kontrovers zum Thema Mathematik
Kaum Anlass zu Besorgnis

Gibt es Kontroversen in der Mathematik, oder sind sich alle einig? Und muss die Gesellschaft von dieser Disziplin etwas befürchten? Diese Fragen standen am fünften Diskussionsabend der Reihe "Wissenschaft kontrovers" auf der Agenda. Sie boten kaum Anlass zu Kontroversen.

Von Felix Würsten

"In der Mathematik sind sich alle einig und die Gesellschaft hat von ihr nichts zu befürchten" - so lautete das Thema des zweitletzten Abends der Reihe "Wissenschaft kontrovers" (1) im Wintersemester. Mathematik, so der Eindruck am Ende der Veranstaltung, wird von der Gesellschaft tatsächlich als ungefährliche Angelegenheit wahrgenommen. Dies, obwohl sie durchaus ihre dunklen Seiten hat, wie Martin Grötschel, Professor für Mathematik an der TU Berlin, gleich zu Beginn des Abends erklärte. So optimieren beispielsweise Mathematiker die Einsatzpläne von Bussen und Flugzeugen, was zu Entlassungen führt. "Mit Hilfe der Mathematik kann man die Welt effizienter machen", meinte er. "Man könnte sie, wenn man denn wollte, aber auch ineffizienter machen."

Im Schatten der Ingenieure

Obwohl Mathematik also für negative Ziele eingesetzt wird, beispielsweise in der Rüstungsindustrie, wird sie von der Öffentlichkeit nicht kritisch hinterfragt. "Sie fristet hinter den Ingenieurwissenschaften ein Schattendasein", meinte Norbert Schappacher, Professor für Mathematik an der TU Darmstadt und wissenschaftlicher Gast am Collegium Helveticum. "Ich erwarte deshalb nicht, dass sich ähnlich wie beim letzten Kontroversen-Abend Betroffene und Geschädigte zu Wort melden werden." Den meisten Bemühungen, der Mathematik zu mehr Öffentlichkeit zu verhelfen, steht Schappacher jedoch skeptisch gegenüber. "Häufig handelt es sich um Veranstaltungen von Mathematikern für Mathematiker."

Zwei Gesichter der Mathematik

Konrad Osterwalder, Rektor der ETH Zürich, versuchte in seinem Plädoyer, den Status der Mathematik als streng rationale Wissenschaft zu relativieren. "In der Mathematik gibt es einen rigorosen Teil, in dem Einigkeit herrscht und der von der formalen Beweisführung beherrscht wird. Daneben gibt es auch einen spekulativen Teil, der durch offene Spielregeln, Fantasie und Intuition geprägt ist." Problematisch sei, dass in der Öffentlichkeit vor allem der spekulative Teil wahrgenommen wird. "Für das Publikum ist es schwer, Traum und Wirklichkeit in der Mathematik auseinander zu halten." Unter Mathematikern wird offenbar heftig gestritten, welcher Teil wichtiger ist. Osterwalder ist überzeugt, dass es beide braucht: "Der spekulative Teil hält die Mathematik als Wissenschaft lebendig, der rigorose Teil hingegen verhindert, dass sie die Bodenhaftung verliert."

Erprobte Validierung

Dass sich in der Mathematik nicht alle einig sind, davon ist auch Bettina Heintz, Professorin für Soziologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, überzeugt. "Sonst wäre sie ja keine Wissenschaft." Die Mathematik habe im Vergleich zu anderen Disziplinen grosse Vorzüge: die Gegner können Argumente rational austauschen, und mit der Beweisführung steht ein erprobtes Validierungsverfahren zur Verfügung. So etwas fehle zum Beispiel den Primatenforschern. "Die Gesellschaft", nahm Heintz das Hauptthema auf, "glaubt fälschlicherweise, sie habe von der Mathematik nichts zu befürchten, weil sie zu Recht annimmt, die strittigen Fragen würden rational entschieden und am Schluss seinen sich alle einig."


weitermehr

Die Zuhörer stärken sich für die nachfolgende Diskussion. gross

Machtstreben und Eitelkeiten

Moritz Epple, Professor am Historischen Seminar der Goethe Universität Frankfurt a.M., zeigte schliesslich am Beispiel eines historischen Streites zwischen Leibnitz und Newton auf, dass auch in der Mathematik nicht alle Kontroversen rational ausgetragen werden, sondern dass Machtstreben und Eitelkeiten auch in dieser Disziplin eine Rolle spielen. Epple wies darauf hin, dass die moderne Beweisführung aus einer grossen Krise entstanden sei. Hätte sich damals eine andere Partei durchgesetzt, so hätten wir heute vielleicht eine andere Mathematik, meinte er.

Sprache und Musik

Nach der Pause zeigten die Diskussionsteilnehmer leider wenig Lust, über das Hauptthema weiter zu debattieren. Auch der Moderator mochte nicht weiter auf dem Thema insistieren. So wandte man sich eher grundsätzlichen Fragen zu, etwa, ob die Mathematik eine besondere Wissenschaft ist, weil sie nach einer Wahrheit sucht, die ausserhalb der menschlichen Gesellschaft Bestand hat. Einig war man sich, dass Mathematik eine Art Sprache ist. Ob sie mit Musik verglichen werden kann, war schon weniger klar.

Klare Sprache – zumindest teilweise

Obwohl sich die Votanten im ersten Teil des Abends bemühten, die praktische Bedeutung der Mathematik hervorzuheben, gelang es im zweiten Teil nicht, sich der Aura der Unantastbarkeit zu entziehen, welche diese Disziplin offenbar nach wie vor umgibt. Richard Pink, Mathematikprofessor an der ETH Zürich, unternahm dann ganz zum Schluss des Abends einen letzten Versuch, das Ausgangsthema wieder aufzugreifen: "Was die Gesellschaft von der Mathematik zu befürchten hat, ist, dass sie junge Menschen beibringt, sich klar und nachvollziehbar auszudrücken." Das stiess bei den zahlreichen Mathematikstudenten jedoch nicht auf ungeteilte Zustimmung. "Wenn ich meine Kommilitonen anschaue", meinte einer von ihnen, "so habe ich den Eindruck, dass sie sich zwar mathematisch korrekt ausdrücken können. Doch sie haben Mühe, über Probleme zu sprechen, die mit Mathematik nicht beschreibbar sind."


Fussnoten:
(1) Homepage der Reihe "Wissenschaft kontrovers": www.kontrovers.ethz.ch/



Sie können zu diesem Artikel ein Feedback schreiben oder die bisherigen lesen.




!!! Dieses Dokument stammt aus dem ETH Web-Archiv und wird nicht mehr gepflegt !!!
!!! This document is stored in the ETH Web archive and is no longer maintained !!!