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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 17.12.2003 06:00

Weihnachtsvorlesung 2003
Bumm-bäng

Von Michael Breu

Das gib es selten: 526 meist Studentinnen und Studenten singen mit dem Professor dreistimmig im Kanon „Tri-ni-tro-oh-to-lu-oh-oh-ol!“ und repetieren „-to-lu-oh-oh-ol!“ um im Finale die Beschwörungsformel abzuschliessen mit einem „Bumm-bäng, Bumm-bäng“. Selten füllt sich der Scherrer-Hörsaal – der grösste an der ETH Zürich – bis auf den letzten Platz, vor allem wenn der Referent als Thema die Quantenmechanik ankündigt, ein den meisten unverständlicher Stoff. Die Ausnahme von vorgestern Montag ist nur möglich, weil der Professor Reinhard Nesper heisst und es sich beim Referat um die traditionelle Weihnachtsvorlesung handelt, bei der es chlöpft und tätscht und – wie im letzten Jahr –auch mal die Feuerwehr mit Blaulicht vorfährt. Heuer musste sie allerdings nicht kommen.

Das erste Spektakel beginnt zwei Stunden vor Beginn der Vorlesung: Sitzplätze müssen ergattert werden. Wer erst eine halbe Stunde vor fünf Uhr kommt, muss den Hörsaal bereits mühsam nach einem Klappstuhl absuchen. Den Countdown, die Zeit bis Vorlesungsstart, zählt eine Ananas-Uhr, die mit einer Kupfer- und einer Zink-Elektrode malträtiert ist und deshalb Strom liefert. Dann geht’s los: Richard Strauss’ „Also sprach Zarathustra“ gibt den Takt vor, während Wolfram Uhlig und Bruno Rüttimann ein „deterministisches Chaos“ in einer Petri-Schale anrichten. Belousov-Zhabotinsky heisst die chemische Reaktion, bei der Malonsäure und Eisen(II)-sulfat oszillierende Bilder „produzieren“. Vom Russen Boris Pavlovich Belousov (1893-1970) gibt es übrigens einen Draht nach Zürich: er studierte Chemie an der ETH.

Der Flaschengeist ist los... Feste Borsäure wird mit Methanol in Borsäuretrimethylester verwandelt und angezündet. gross

„Ich bin überwältigt, dass so viele gekommen sind“, sagt Chemieprofessor Nesper, „da kommt ja keiner mehr raus.“ Keiner kommt mehr raus, wenn etwas schief gehen sollte – wie damals, am 9. April 1853, als Justus Liebig (1803-1873) dem Bayerischen König Ludwig und seiner Gemahlin Therese den „bellenden Hund“ vorführte und das Experiment schief ging.

Ammoniak-Springbrunnen: Im unteren Rundkolben ist der Indikator Bromkresol in leicht sauerem Wasser gelöst. Durch leichtes Anblasen wird die Flüssigkeit ins obere Gefäss gedrückt, welches Ammoniak enthält. Dabei färbt sich die Flüssigkeit blau. gross


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Bengalisches Feuer: Kaliumchlorat und Zucker werden mit Barium- (grün), Strontium- (rot) oder Natriumnitrat (gelb) vermischt. Dazu kommen einige Tropfen Schwefelsäure. Es entsteht Clorsäure, die sich selbst entzündet und die Metallsalze zum "Leuchten" bringt. gross

Die Reaktion von Kohlenstoffdisufid mit Distickstoffmonoxid geriet ausser Kontrolle, das Glasrohr explodierte und verletzte die Königin. „Als ich mich nach der furchtbaren Explosion in dem Raum, wo die Zuschauer sassen, umschaute und das Blut von dem Angesicht der Königin Therese und des Prinzen Luitpold rinnen sah, war mein Entsetzen unbeschreiblich; ich war halbtot“, zitiert Nesper den Chemiker Friedrich Wöhler (1800-1882), ein Ziehsohn des grossen Liebig. So weit kommt es bei Nespers Vorlesung nicht, seine beiden Assistenten Wolfram Uhlig und Bruno Rüttimann, beide in einem gelblichen Labormantel, haben Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Behaupten sie zumindest.

„Der Mikrokosmos ist unser heutiges Thema“, sagt Nesper, „genauer die Materie im Mikrokosmos.“ Ob es eine solche gibt? Die Vorlesung beginnt im Universum und endet in der Beziehung einzelner Teilchen zueinander, der Gleichzeitigkeit, der Synchronizität. Gleichzeitig sein kann nur ein Flaschengeist. Beim Experiment wird ein Borester-Luft-Gemisch verbrannt, wobei grüntanzende Flammen entstehen. Grosser Applaus im Hörsaal. Chemiezauberer Nesper fährt weiter und kommt via Quantenzustand zur Nicht-Linearität. Erneut muss es knallen – roter Phosphor wird mit Kaliumchlorat vermischt, die Explosion ist laut!

Die sinkende Titanic: ein Beweis für Emergenz? Bildet sich etwas Neues, wenn sich das Kunststoffschiff aus Polystyrol auflöst? - Chemie ist auch Philosophie. gross

Zum Abschluss – die Luft ist mittlerweile dick, die Hälfte des Hörsaals hustet – verschafft sich auch Nesper Luft. Geärgert hat ihn Dietrich Schwanitz’ Buch „Bildung. Alles, was man wissen muss“. „Darin schreibt der Autor, dass die naturwissenschaftliche Bildung nichts zur Kultur beitrage. So ein Quatsch“, sagt Nesper und zeigt gleich mit mehreren Versuchen, wie insbesondere Chemie die Kultur beeinflusst. Ein Beispiel: Man nimmt eine Lösung aus Kaliumiodat (1,5 Gramm) und Kaliumhydrogensulfat (0,75 Gramm) in 50 Milliliter Wasser und eine zweite Lösung aus Natriumhydrogensulfit (2 Gramm) in ebenfalls 50 Milliliter Wasser. Beides schüttet man in einen Bierkrug, der einen Bodensatz Abwaschmittel enthält. Und voilà: das Ganze verwandelt sich zu Bier. Und ein Prost auf die Landolt-Reaktion, Weihnachten und das neue Jahr…


Literaturhinweise:
Friedrich R. Kreissl, Otto Krätz: „Feuer und Flamme, Schall und Rauch. Schauexperimente und Chemiehistorisches“, Wiley-VCH-Verlag, Weinheim, 2003: www.wiley-vch.de/publish/dt/books/bySubjectCH00/ISBN3-527-30791-5
Experiments on the Web, ein Projekt von ETH World: http://www.cci.ethz.ch



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