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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 16.02.2005 06:00

Genie- und Elitegehirnforschung
Geschichte genialer Gehirne

Das Gehirn verlockt zu Projektionen. Der ETH-Wissenschaftshistoriker Michael Hagner hat in seinem neuen Buch "Geniale Gehirne" die Geschichte der Versuche, Genialität oder Elitestatus im Gehirn zu verorten, nachgezeichnet. Letzten Montag wurde es im Foyer der Zürcher Schauspielhauses vorgestellt.

Von Christoph Meier

Gehirn – bei diesem Begriff denken wohl die wenigsten einfach nur an einen blumenkohl-grossen Zellhaufen, sondern sie denken fast unweigerlich ans Denken. Das scheint viele wohltuend zu irritieren, so dass Veranstaltungen, die sich mit dem Gehirn beschäftigen, sich regen Zulaufs erfreuen. Kommt dann noch die Verbindung mit Genialität und Elite dazu, ist der Faszinationenmix perfekt. Insofern überrascht es auch nicht, dass letzten Montagabend gut hundert Personen sich im Schauspielhaus einfanden, um anhand eines Gesprächs zwischen dem Tagesanzeiger Redaktor Guido Kalberer und dem ETH-Wissenschaftshistoriker Michael Hagner mehr über dessen neues Buch „Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung“ zu erfahren (1).

Kulturelle und technische Voraussetzungen

Angesprochen darauf, wie es überhaupt dazu komme, dass Hirnforscher sich mit Genialität und Elite befassen, nannte Michael Hagner zwei Bedingungen für die Entstehung: Erstens brauche es dazu eine neue Technik und zweitens ein entsprechendes politisch-kulturelles Umfeld. Als die Elitegehirnforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkam – die zum Genie begann bereits um 1800 -, hing dies damit zusammen, dass die darin führenden Länder, Deutschland und die Sowjetunion, zu den Verlierern des ersten Weltkrieges gehörten. Doch wäre deren Biopolitik kaum denkbar gewesen ohne die von Oskar Vogt entwickelte Methode der Cytoarchitektonik. Wenn es heute erneut zu einer Elitegehirnforschung kommen sollte – Hagner wählte bewusst den Konditional -, dann wäre das einerseits auf die bildgebenden Verfahren, andererseits auf einen Bildungsnotstand, der sich beispielsweise in Deutschland in einer Suche nach einer Elite manifestiert, zurückzuführen.

Doch die Zuordnung von mentalen Prozessen zu Hirnbildern ist für den ETH-Forscher nicht nur Cyber-Phrenologie. Die Gesichtserkennung lasse sich sicher gut bestimmten Hirnprozessen zuschreiben. Problematisch wird es für Hagner, wenn man dasselbe mit Begriffen wie Musikalität oder Genialität versucht. Diese sind nämlich für Hagner soziale Zuschreibungen und lassen sich somit kaum ins Hirn einer mit dem entsprechenden Attribut versehenen Person „transplantieren“.

Einsteins Hirn änderte Buchprojekt

Fast überrumpelt wurde Michael Hagner durch das „Auffinden“ der Genialität im Gehirn Albert Einsteins. 1999 publizierte die kanadische Forscherin Sandra Witelson einen Artikel, in dem sie eine einmalige Morphologie anhand einer verdickten Windung im Gehirn des Physikers beschrieb. Der ETH-Wissenschaftler beschloss darauf, sein Buch nicht in den 40er Jahren enden zu lassen, sondern die Geschichte bis zum Ende dieses Jahrhunderts zu schreiben.


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Untersuchte in seinem neuen Buch die Geschichte der Genie- und Elitegehirnforschung: ETH-Wissenschaftshistoriker Michael Hagner. gross

Witelsons Unterfangen zeigte nämlich, dass die Geniehirnforschung weiterlebte. Besonders ärgerlich dabei war, so Hagner, dass Witelson suggerierte, ihre Ergebnisse beruhten auf moderner Technik, was praktisch unmöglich war. Die dadurch erneut ausgelöste Diskussion um Einsteins Hirn demonstrierte zugleich, wie das Interesse an genialen Gehirnen zeitabhängig ist. So erfuhr das Publikum von Hagner, dass zur Zeit von Einsteins Tod in den fünfziger Jahren dessen Hirn durch den Pathologen Thomas Harvey nur so dilettantisch entnommen und konserviert werden konnte, weil sich zu dieser Zeit niemand für den Zusammenhang von Genialität und Gehirnanatomie interessierte. Zu dieser Zeit galt das Interesse vielmehr der Kybernetik.

Obwohl Michael Hagner noch einige hirnrissige Begebenheiten aus der Geschichte der Elite-und Geniegehirnforschung erzählte, betonte er, dass es ihm nicht darum gehe, Verirrungen aufzudecken oder die auf ihrem Gebiet teilweise hervorragenden Forscher zu entblössen. Vielmehr wolle er aufzeigen, dass gerade das Gehirn je nach dem geschichtlichen Umfeld unterschiedliche symbolische Zuschreibungen erfuhr. Ob die an diesem Abend erfahrene Sensibilisierung genügt, um der nächsten Verortung der Genialität im Gehirn vorsichtiger zu begegnen, wird die Zukunft weisen. Denn die Beschäftigung mit Gehirnen aussergewöhnlicher Persönlichkeiten wird auch nach der Veröffentlichung von Hagners Buch kaum aus der Hirnforschung verschwinden.


Geniale Gehirne

Der seit 2003 an der ETH tätige Wissenschaftshistoriker und studierte Mediziner, Michael Hagner, beschreibt in seinem Buch „Geniale Gehirne“ die Sammlung und Erforschung der Gehirne in den vergangenen 200 Jahren. Er zeigt, wie das Gehirn als Steuerungszentrale ausgemacht und in der Folge mit psychologischer, moralischer, kultureller, sozialer, ökonomischer und politischer Bedeutung aufgeladen wird. Der wissenschaftsgeschichtliche Diskurs schlägt somit einen Bogen, der sich vom Wandel des Seelenorgan zum Gehirn um 1800 bis zu dem Vergleich von Ulrike Meinhofs Gehirn mit dem des paranoiden Triebtäters Ernst Wagner spannt.




Fussnoten:
(1) Michael Hagner: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung. Wallstein Verlag, 2004. ISBN 3-89244-649-0



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