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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 12.02.2002 06:00

Neues Buch zu Kartografie und Nation
Die Macht der Karte

Sie wurde mit Auszeichungen überhäuft und in ihrer Epoche als die beste Karte der Welt gepriesen. Sie leistete aber noch viel mehr: Die unter Guillaume-Henri Dufour entstandene Schweizerkarte prägte das Bild von der jungen Nation und war ein wichtiger Beitrag zu ihrem Zusammenwachsen. Ein neues Buch von ETH-Historikern zeigt, wie es dazu kam.

Von Norbert Staub

"Nichts ist fundamental." Mit dieser Maxime des französischen Philosophen und Historikers Michel Foucault leiteten Daniel Speich und David Gugerli (1) vom Institut für Technikgeschichte der ETH vergangene Woche im Collegium Helveticum die Präsentation ihrer neuen Studie "Topografien der Nation" ein (2). Fundamentalität, so Foucault, tauge als Konzept nicht zur Analyse gesellschaftlicher Phänomene. Vielmehr müssten die Forscher die Wechselwirkungen zwischen den als fundamental geltenden Grössen ins Visier nehmen.

Dufour als Integrationsfigur

"Mit einiger Unverfrorenheit", so die Autoren, seien sie mit ihrer Studie Foucault gefolgt und hätten die drei Bereiche Landschaft, Kartografie und Schweizer Politik des 19. Jahrhunderts miteinander verzahnt. Herausgekommen ist ein höchst lesenswertes Buch zur nationalen Geschichte, das die technischen und politischen Voraussetzungen der Darstellung der Schweiz via Karte aufdeckt.

daniel speich   david gugerli
Haben ein spannendes Stück Schweizer Geschichte ausgeleuchtet: Daniel Speich (l.) und David Gugerli anlässlich der Präsentation ihrer Studie im Meridiansaal des Collegium Helveticum vergangene Woche. gross

Denn die Selbstverständlichkeit, "mit der sich Karte und Nation gegen Ende des 19. Jahrhunderts schliesslich zur Deckung bringen liessen," lohnt sich zu verstehen - da sie einiges aussagt über das nur scheinbar gewordene, sondern vielmehr gemachte Bild von der Schweiz. Politik und Wissenschaft waren zu diesem Zeck eine enge Liaison eingegangen. Guillaume-Henri Dufour personifizierte diesen Pakt wie kein anderer: Als General im Sonderbundskrieg erwarb er sich den Ruf, das Auseinanderbrechen der Schweiz verhindert zu haben. Und als Herr über das geodätische Mammutwerk "Schweizer Landeskarte" (1832 bis 1865) schwang sich der weltgewandte Genfer endgültig auf zu dem Identitätsstifter der noch jungen Nation.

Vom Staatsgeheimnis zur "Reliefomanie"

Gehörte die Kartografie noch im 18. Jahrhundert zu den Staatsgeheimnissen, die von Militärs argwöhnisch verwaltet wurden, so brachte das 19. Jahrhundert einen Mentalitätswandel und eine radikale Popularisierung.


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dufour karte ausschnitt
Landschaft, lesbar gemacht: Ausschnitt aus der Dufourkarte. gross

Im Zuge der Nationenbildung wurde sie breit propagiert: das Volk sollte sich mit Dufours reliefartiger Darstellung des Landes identifizieren - und es tat dies dankbar. Zum Beispiel anlässlich der nun regelmässig veranstalteten Landesausstellungen, die wie das Kartenwerk als nationale Orientierungshilfen gesehen werden können.

So war denn an der ersten Landesausstellung 1883 in Zürich eine regelrechte "Reliefomanie" zu beobachten, wie damals ein Kritiker schrieb. Aus Gips gefertigte dreidimensionale Ansichten der Schweiz waren dort auf Schritt und Tritt zu finden. Gleichzeitig kann, so die Autoren, "das Vermessungprojekt (...) als Nukleus der zentralen Verwaltung gelten". Aus dem lockeren Staatenbund formte sich ab 1848 allmählich eine stabile Zentralverwaltung, und die Kartographie trug, wie Gugerli und Speich zeigen, Entscheidendes dazu bei.

Wetter, Berge: Monumentale Hindernisse

Dabei vereinfache unzulässig, wer die amtliche Vermessung der Schweiz als blosses Instrument der politischen Machtausübung deuten will. Zu verwoben seien in der Ära Dufour das Beziehungen zwischen Wissen, Macht und Landschaft gewesen. Gerade geografisches Wissen gehörte im 19. Jahrhundert zu jenen Elementen der Modernisierung, die ein wachsender Bevölkerungsanteil zum selbstverständlichen Bildungsfundus rechnete.

Die Definitionsmacht der Dufourkarte kann kaum überschätzt werden. Ende der 1870er Jahre wurde sie vorbehaltslos akzeptiert - nachdem ihrer Entstehung manch ein Hindernis im Weg gestanden hatte. Nicht nur der zerklüftete Alpenbogen - bis dahin eine gefährliche terra incognita -, sondern auch das scheinbar zugänglichere Mittelland sperrte sich gegen die Vermessung: so musste der zuständige Ingenieur im Zürcher Tösstal sechs lange Wochen mit Zeitunglesen totschlagen, da zäher Nebel den Einsatz seines Winkelmessgerätes verhinderte. Und mit Verständnis, geschweige denn mit Kooperation bei der lokalen Bevölkerung konnten die Kartografen vor allem zu Beginn des Unternehmens kaum rechnen.

Daniel Speich und David Gugerli zeichnen den Entstehungprozess der Karte minutiös nach, in mehreren Schlaufen, indem sie von den politischen über die technischen zu den landschaftlichen Herausforderungen vorstossen. Das anspruchsvolle Vorgehen ist gepaart mit einer wohltuend zugänglichen Sprache, die das Buch nicht nur für Insider lesbar macht. Wie nebenbei ist das Werk auch zu einer modernen Dufour-Biografie geworden; eine beeindruckende Masse seiner Briefe durchzieht es als roter Faden.


Fussnoten:
(1) David Gugerli ist Professor für Technikgeschichte an der ETH. Daniel Speich ist Assistent am Institut für Technikgeschichte.
(2) David Gugerli und Daniel Speich: Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert. Chronos: Zürich 2002.



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