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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 08.09.2004 06:00

Erste Ittinger Sommer-Schule
Listenreiche Wissenschaft

List muss in den Wissenschaften nicht Betrug bedeuten, war ein Fazit der ersten Ittinger Sommer-Schule, einer Studienwoche von Nachwuchsforschenden, an der sich auch die ETH beteiligte. An der gut besuchten Abschlussveranstaltung sprach Bundesrat Moritz Leuenberger zum Thema „List in der Politik.“

Von Christoph Meier

Die List, für den Abschlussvortrag der ersten Ittinger Sommerschule Bundesrat Moritz Leuenberger als Attraktion in den Thurgau zu holen, gelang: Eine ansehnliche Schar pilgerte an dem strahlenden Samstag Ende Juli in die Kartause, um den Schlussevent zum Thema „List in der Wissenschaft“ zu besuchen (1). Die Studienwoche, die Johannes Fehr vom Collegium Helveticum der ETH mitorganisierte, erhielt die gewünschte Aufmerksamkeit.

Doch mit welchen Listen hatten sich die rund 20 Teilnehmer der ersten Ittinger Sommerschule, die aus den verschiedensten Ländern stammten, während den fünf Tagen in der Kartause befasst? Ging es um Arglist, wie sie die an der Sommerschule beteiligte Universität Konstanz gemäss ihres Rektors Gerhart von Graevenitz im Falle des deutschen Physikers Jan Hendrik Schön „schmerzhaft erfahren“ hatte? Diese Fragen versuchte José Brunner von der Universität Tel Aviv den Zuhörern zu beantworten.

Der Professor aus Israel hielt zuerst einmal fest: „List muss nicht Betrug sein“. Teilweise gehöre sie gerade zum Geschäft der Forschung. Brunner unterstrich seine Aussage einerseits mit dem Hinweis auf das Milgram-Experiment. In diesem wurde die jeweilige Versuchsperson angewiesen, in einer Rolle als Lehrer einer angeblich anderen Versuchsperson, welche die Rolle eines Schülers übernehmen sollte, Elektroschocks zu verabreichen, wenn diese Fehler machte. Die Versuchspersonen verhielten sich überraschend gehorsam und wurden insofern überlistet, indem sie nicht realisierten, dass ihr „Schüler“ ein Schauspieler war (2) . Andererseits zeigten weniger drastisch auch Doppelblindstudien, wie List in der Wissenschaft eingesetzt wird.

Betrügen, um aufzufallen

Brunner stellte dann allgemeiner fest, dass man Odysseus als Archetypus des modernen Wissenschaftlers betrachten könne. Mit List gewinne dieser Einblicke in neue Gebiete, auch wenn das nicht für eine geplante Reise genüge. Der Philosophieprofessor sah aber Mängel bei diesem Bild. So werde heute vermehrt in Teams gearbeitet und die Wissenschaft zeichne sich durch eine Massenproduktion aus.


List in der Politik

In seiner Rede zum Abschluss der ersten Sommerschule ging Bundesrat Moritz Leuenberger in seiner bekannt launigen Art auf die List in der Politik ein (3). Es gibt gemäss dem Bundesrat dabei viele Spielarten. Doch werde deren Einsatz vor allem von den Medien masslos überschätzt. In einer Demokratie gelte es zudem zu beachten, dass zumindest im Nachhinein dem Stimmbürger gegenüber eine angewandte List erklärt werden muss. Leuenberger scheute in seiner Rede auch nicht davor zurück, Beispiele zu nennen. Mochte die Entschuldigung als List bei Bill Clinton im Bezug auf die Lewinsky-Affäre noch gelingen, versagte sie bei George Bush mit seiner öffentlich zur Schau gestellten Zerknirschung nach den Bildern aus Abu Ghraib. Geradezu manipulativ ist gemäss dem SP-Minister der spanische Ministerpräsident Aznar vorgegangen, als er nach den Terroranschlägen in Madrid den Verdacht auf die ETA zu lenken versuchte.




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In der idyllischen Kartause Ittingen brüteten Nachwuchsforschende über dem Problem der "List in der Wissenschaft".

Das führt zur Frage, mit welcher List Forscher versuchen, aus der Masse herauszutreten. Eine Option sei der Betrug, wobei dieser häufig auf erstaunlich dumme Weise angegangen werde. Brunner bezweifelte, dass schliesslich die Wahrheit immer siegen werde. Die Aussage, die Wissenschaft stehe im Dienste der Allgemeinheit, sei möglicherweise auch nicht mehr als eine noble Lüge – insbesondere wenn man die zunehmende Verflechtung der Wirtschaft mit der Forschung berücksichtige.

Die Ausführungen Brunners gaben einen Eindruck von den Themen der Sommerschule, doch liessen sie offen, wie konkret diese angegangen wurden. Sicher wäre manch einer interessiert daran gewesen zu erfahren, ob Versuche gemacht wurden, eine Grenze zwischen List und Arglist zu ziehen. Oder wie weit eine Diskussion stattgefunden hat, ob die Aberkennung des Doktortitels von Jan Hendrik Schön durch die Uni Konstanz eine sinnvolle Reaktion gewesen sei, da Schön für diesen Titel anscheinend ohne gefälschte Daten auskam.

Glaubwürdigkeit der Wissenschaft gefährdet

Johannes Fehr zeigt sich beeindruckt, wie schnell sich die Teilnehmenden zur Zusammenarbeit fanden. Das gewählte Thema sei alle etwas angegangen und jeder habe damit eine konkrete Erfahrung verbunden. Fragt man nach den an der Sommerschule gewonnenen Einsichten, erwähnt Fehr als erstes die Rolle des Vertrauens. Dieses werde zunehmend wichtiger, da in der wissenschaftlichen Praxis Daten und Verfahren immer weniger überprüft werden könnten. Damit steigt der Vertrauensanteil, der aufgrund des steigenden Kompetitions- und Innovationsdruckes in Kauf genommen wird.

Wissenschaft gehört als Institution zu den Grundpfeilern westlicher Zivilisationen, ist Fehr überzeugt. Für den Forschritt brauche es aber Spielraum für die Forschenden, der auch nach einer speziellen Verantwortung rufe. In Ittingen sei man sich einig gewesen, dass es Teil einer aufgeklärten Forschungspraxis sein muss, sich zu vergegenwärtigen, was es bedeute, im Namen der Wissenschaft zu handeln. Akzentuiert wird dieses Problem durch die Monopolstellung der Wissenschaft. Da es keine ernstzunehmende Alternative zur wissenschaftsbasierten Zukunftssicherung gibt, lösten Fälschungen in der Wissenschaft besonderen Argwohn aus. Die Teilnehmenden der Sommerschule gingen darum mit der Einsicht nach Hause, dass Betrugsfälle nicht nur ein Problem der fehlbaren Einzelpersonen sind, sondern die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft als Institution aufs Spiel setzen.

Ermöglicht wurde die erste Ittinger Sommerschule durch die Lion Stiftung, die der 2001 verstorbene Kurt Lion aus Kreuzlingen1987 ins Leben rief. Mit der Stiftung wollte der Unternehmer die wissenschaftliche Zusammenarbeit der Universitäten Konstanz und Tel-Aviv fördern. Dieses Jahr stiess die ETH Zürich mit dem Collegium Helveticum zu dieser Partnerschaft.

Fussnoten:
(1) Erste Ittinger Sommerschule: www.uni-konstanz.de/struktur/zwn/summerschool-ittingen/index.html
(2) Eine Darstellung des Milgram-Experimentes: www.ngfg.com/texte/br003.htm
(3) Bundesrat Leuenbergers Rede über die List in der Politik: www.uvek.admin.ch/dokumentation/reden/chef/20040731/01974/index.html?lang=de



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