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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 27.05.2003 06:00

Jahr der Chemie
Reich der stillen Kräfte

Deutschland feiert „das Jahr der Chemie“. Anlass dafür ist der 200. Geburtstag des Chemikers Justus Liebig. Gleichzeitig soll das Jahr genutzt werden, um die Chemie einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Auch Schweizer Chemiker engagieren sich am Anlass.

Von Michael Breu

Eine stille Faszination verbindet Chemiker, eine Welt von kleinen Teilchen, von Molekülen, die in der Summe die Welt beschreiben. Doch die Leidenschaft, die „molekulare Liebe“, wie sie kürzlich von der Gesellschaft Deutscher Chemiker beschrieben wurde, erregt nicht alle Forscher gleich. Oft stösst sie auf wenig Gegenliebe. Das war schon 1865 so, als Justus Liebig in seinen „Chemischen Berichten“ festhielt: „Die Chemie führt den Menschen ein in das Reich der stillen Kräfte, durch deren Macht alles Entstehen und Vergehen auf der Erde bedingt ist, auf deren Wirkung die Hervorbringung der wichtigsten Bedürfnisse des Lebens und des Staatskörpers beruht.“ Mit dem wohl ersten, in deutscher Sprache (in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“) erschienenen, populärwissenschaftlichen Aufsatz wollte der Begründer der modernen Chemie für sein Fach werben. Doch seiner Zeit war er weit voraus. Während in Frankreich und in England die Experimentalchemie in den Naturwissenschaften schon seit mehr als hundert Jahren ein grosses Gewicht einnahm, flammte das Interesse in den deutschsprachigen Ländern nur zögerlich auf; zu stark war der Glaube an die Alchemie und die Hoffnung, aus Blei doch noch Gold herstellen zu können. „Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch das Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu sengen“, schrieb denn auch der Physiker, Chemiker und Philosoph Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799).

Mit 21 bereits Professor

Ein kleines Licht wurde am 12. Mai 1803 – vor zweihundert Jahren – in Darmstadt entfacht: als zweiter Sohn (von insgesamt zehn Kindern) des Drogisten und Farbchemikers Johann Georg Liebig und Maria Caroline Liebig-Fuchs wurde Justus geboren; in einer Zeit, in der Napoleon seit einem Jahr Konsul auf Lebzeiten ist, der Dichter Herder stirbt, Jean Paul seinen Roman „Titan“ schreibt und Dalton den ersten Versuch einer Atomtheorie aufstellt.

Justus Liebig beginnt Ende 1820 sein Studium der Chemie, schliesst es nach nur drei Semestern mit einer Doktorarbeit „über das Verhältnis der Mineralchemie zur Pflanzenchemie“ ab und wird im Alter von nur 21 Jahren zuerst ausserordentlicher, ein Jahr später ordentlicher Professor für Chemie und Pharmazie an der Landesuniversität Giessen. Dort prägt er die chemische Forschung, bis er 1852 einem Ruf an die Universität München folgt. „Sein Laboratorium wird zur Mutter aller chemischen Institute in der ganzen Welt“, schreibt der Clausthaler Chemie-Professor Georg Schwedt in einer kürzlich erschienenen Biografie. 1873 stirbt Justus Liebig in München an einer Lungenentzündung.

Ein Jahr für die Chemie

Heute ist Liebigs Name wieder aktuell: Mit dem „Jahr der Chemie“ würdigt und gedenkt das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung dem Schaffen des Chemikers. Auch Schweizer Forscher engagieren sich für das „Jahr der Chemie“. „Was mich an Liebig beeindruckt, ist sein Gesamtbild der Chemie als Basis der Naturwissenschaften“, sagt François Diederich, Professor für Organische Chemie und Vorsteher des Departements für Chemie und Angewandte Biowissenschaften der ETH Zürich. So hat Liebig die Agrikultur- und Tierchemie begründet und die Grundlagen für die künstliche Düngung gelegt; er hat die Elementaranalyse entscheidend verbessert, die eine Bestimmung von Kohlenstoff und Wasserstoff im Molekül erlaubt; und er hat (zusammen mit Friedrich Wöhler) die Radikaltheorie ausgearbeitet sowie die Isomerie und die Wertigkeit von Säuren beschrieben. „Doch auch ganz praktische Produkte gehen auf Liebig zurück: der Silberspiegel zum Beispiel“, sagt Diederich. Oder das Backpulver, die Säuglingsnahrung und das Fleischextrakt. „Ich würde behaupten: Ohne die Erkenntnisse von Liebig könnten wir heute nicht überleben“, findet François Diederich.

Kochen in der Retorte: die ständige Liebig-Ausstellung im Deutschen Museum München. Bild: Michael Breu gross

Liebig steht aber auch am Anfang eines grossen „wissenschaftlichen Stammbaums“; 44 seiner Schüler (Diederich: „wissenschaftliche Söhne, Enkel und Urenkel“) erhielten den Nobelpreis für Chemie. Auch an die ETH Zürich führen die Spuren des grossen Chemikers: Alexander Pompejus Bolley, von 1859-1865 Direktor des Polytechnikums, war einst Liebigs Schüler. Seine Gabe als Lehrer muss hervorragend gewesen sein, vermutet Georg Schwedt, und François Diederich glaubt, dass Liebig die grosse Fähigkeit besass, „für Chemie zu begeistert“. Die Chemie-Faszination in den Worten Liebigs: „Keine unter allen Wissenschaften bieten dem Menschen eine grössere Fülle von Gegenständen des Denkens, der Überlegung und von frischer, sich stets erneuender Erkenntnis dar als die Chemie.“

Prominente Warnung

„Gegenwärtig steht die chemische Industrie noch gut da und leistet einen bedeutenden Beitrag zur Wirtschaft der europäischen Staaten. Aber die Zukunft sieht weniger rosig aus. Da die Attraktivität Europas als industrieller Standort ständig abnimmt, wandert die chemische Industrie allmählich in andere Kontinente ab.


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Die Chemie ist unter Druck geraten. Das „Jahr der Chemie“ ist Gelegenheit, ihre Bedeutung neu ins Bewusstsein zu rufen. Bild: Schürpf gross

Und weil die Arbeitsplätze in der chemischen Industrie immer weniger werden, wird die Chemie auch immer seltener gelehrt, und die Forschung an unseren Universitäten leidet“, schreiben die beiden Chemie-Nobelpreisträger Richard Ernst (ETH Zürich) und Jean-Marie Lehn (Université Louis Pasteur/Collège de France) sowie Simon de Bree, Präsident des Europäischen Chemieverbandes, und Lord Lewis of Newnham von der Royal Society of Chemistry in einer Standortbestimmung mit dem Titel „Chemie: Europa und die Zukunft“. Deshalb sei eine Förderung von hoher Bedeutung. „Die Chemie ist eine Querschnittstechnologie. Sie entwickelt nicht nur Konzepte zur Synthese von Molekülen, sondern trägt auch zum Verständnis der Vorgänge auf atomarer Ebene bei. Die Chemie befasst sich also sowohl mit den mikroskopischen als auch mit den makroskopischen Bereichen der Natur. Mit der Pflanzen- und Tierwelt ist sie über die Landwirtschaft und Biologie verknüpft, und mit den Menschen über die Medizin“, findet John Emsley vom Londoner Imperial College of Science.

Chemie erleben und beleben

Genau diese Vielfalt soll mit dem „Jahr der Chemie“ erlebbar werden, sagt der Polymerchemiker Holger Bengs von der Gesellschaft Deutscher Chemiker und findet: „Das Jahr der Chemie lebt vom Mitmachen“.

François Diederich von der ETH lobt dieses Engagement und hofft, dass die Chemie an Stellenwert gewinnen wird. Zwar kann die Schweiz nicht klagen: die Zahl der Chemie-Studentinnen und -Studenten hat in den letzten Jahren wieder deutlich zugenommen – nachdem sie den Tiefpunkt Mitte der 1990er-Jahre erreichte. Auch Deutschland zählt seit vergangenem Jahr wieder mehr Studierende, nachdem die Zahl vor zehn Jahren „auf alarmierend niedriges Niveau gesunken war, was derzeit zu einer ungenügenden Zahl promovierter Abgänger führt“. Das bestätigt indirekt eine Umfrage des Nachrichtenmagazins „Spiegel“ die zeigt, dass der Berufsstand der Chemiker derzeit keine Arbeitslosigkeit kennt.

„Das Jahr der Chemie ist sehr wertvoll“, findet Diederich. „Die Chancen und Probleme der Chemie können dank des Anlasses in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werden.“ Ein wichtiges Anliegen, dem das Departement für Chemie der ETH einen hohen Stellenwert einräumt; immerhin beschäftigt es zwei Mitarbeiter, die sich um die Öffentlichkeitsarbeit kümmern. In diese Richtung zielt auch das (kleine) Museum, das auf dem Hönggerberg geplant ist. Dort soll die Geschichte der Chemie und Pharmazie dokumentiert werden. Erste Exponate – und hier schliesst sich der Kreis zu Justus Liebig – sind bereits zu sehen.


Chemie im Buch

Das „Jahr der Chemie“ wird in Deutschland gefeiert. Auch der Weinheimer Wiley-VCH-Verlag beteiligt sich daran. Er hat aus diesem Anlass vier populärwissenschaftliche Bücher neu aufgelegt und vertreibt sie zum Preis von nur 12.50 Euro. Mit „Schauexperimenten und Chemiehistorischem“ befasst sich „Feuer und Flamme, Schall und Rauch“ von Friedrich R. Kreissl (TU München) und Otto Krätz (Deutsches Museum München), das ursprünglich dem 80. Geburtstag von Ernst Otto Fischer gewidmet war. Das Buch gibt neben einem fundierten historischen Abriss über die Entwicklung der Chemie einen Einblick in die Experimentalchemie. Die Rezepte eignen sich für den Chemieunterricht.

„Kaffee, Käse, Karies“ heisst das Werk, das von Jan Koolman, Klaus-Heinrich Röhm (beide Universität Marburg) und Hans Moeller (Universitäts-Kinderklinik Tübingen) herausgegeben wird. Geschrieben wurden die Artikel über „Biochemie im Alltag“ von Studierenden der Humanbiologie. Das Buch greift Alltägliches auf und setzt es auf unterhaltsame Weise um.

Gleich zwei Bücher sind von John Emsley (Imperial College) erschienen: „Parfum, Portwein, PVC“ und „Sonne, Sex und Schokolade“. Der erfolgreiche Didaktiker und Chemieprofessor beschreibt darin „Chemie aus dem Alltag“.

Ebenfalls im Zusammenhang mit dem „Jahr der Chemie“ ist im Heidelberger Springer-Verlag das Buch „Liebig und seine Schüler – die neue Schule der Chemie“ von Georg Schwedt (TU Clausthal) erhältlich (34.95 Euro). Schwedt, dafür ist er bekannt, gibt einen tiefen, historischen Einblick in das Leben Justus Liebigs. Allerdings ist die Datenfülle über weite Strecken alles andere als einfach zu lesen.

Empfehlenswert ist der Überblick, den die Website www.jahr-der-chemie.de/ gibt. Neben einem umfassenden Veranstaltungskalender und einer grossen Linksammlung sind auch Informationen über die Chemie abrufbar – unter anderem das (sehr lesbare) „Molekül der Woche“. Das Leben von Justus Liebig hat das Liebig Museum Giessen aufgearbeitet; es zählt zu den sechs wichtigsten Chemie-Museen der Welt (www.liebig-museum.de/homepage.html). Auf der Homepage des Museum sind auch die „Chemischen Berichte“ zu finden, die Liebig für die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ verfasste (sie sind als pdf.-Datei verfügbar).






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