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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 12.06.2003 06:00

Umweltökonomie
Artenvielfalt gerechnet

Heute Donnerstag wird der Nationalrat voraussichtlich die Beratung über die Neugestaltung des Finanzausgleichs abschliessen. Unter anderem ist ein „geografisch-topografischer Lastenausgleich“ vorgesehen. Auch ETH und Universität Zürich haben einen Vorschlag ausgearbeitet, der die Biodiversität mitberücksichtigt.

Von Michael Breu

Die Natur hat in der Buchhaltung oft keinen Preis. Ausser: sie verursacht Kosten. So wird der Ernteausfall erst beziffert, wenn er durch Erosion oder durch ein Hochwasser verursacht wird. Und Landwirtschaftsland geht erst dann in die Rechnung ein, wenn es von einem Unwetter zerstört wird.

Nicht oder nur wenig beziffert wird die Ressource: das Land, die Tiere und Pflanzen. Aber auch die Aufwendungen für den Erhalt der Artenvielfalt werden meist nicht berücksichtigt – höchstens etwa in der Rechnung der politischen Gemeinden oder der Kantone. Und diese Lasten sind höchst ungleich verteilt. Der grosse Gebirgskanton Graubünden zum Beispiel muss aus seinem Haushalt deutlich mehr Geld für Kantonsstrassen, den Unterhalt von Flüssen und Bächen oder für die Waldpflege aufwenden als der Stadtkanton Genf.

Das soll sich ändern. 1994 starteten das Eidgenössische Finanzdepartement, unter Leitung von Bundesrat Kaspar Villiger, und die kantonalen Finanzdirektoren, unter Leitung des St. Galler Regierungsrates Peter Schönenberger, das Projekt für die „Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen“ – kurz: NFA. „Der NFA revidiert die grundlegenden Mechanismen der Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen“, heisst es dazu in einer Broschüre (1). In diesem Jahr werden die Eidgenössischen Räte die Botschaft verabschieden; heute Donnerstag gemäss Traktandenliste der Nationalrat. Schliesslich könnte dann im kommenden Jahr der NFA dem Volk zur Abstimmung unterbreitet werden. Bei einer Zustimmung träte der neu gestaltete Finanzausgleich voraussichtlich im Jahr 2006 in Kraft.

Lasten ausgleichen

Ein zentraler Punkt des NFA ist der Lastenausgleich: Der soziodemografische soll die „übermässigen Lasten der Zentrumskantone“ ausgleichen, der geografisch-topografische die „übermässigen Lasten des Berggebietes“. Der Biologe Thomas Köllner von der ETH und die beiden Ökonomen vom Institut für Umweltwissenschaften der Universität Zürich, Irmi Seidl (heute an der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft tätig) und Oliver Schelske (heute bei der Ernst Basler und Partner AG beschäftigt), haben sich dem Thema angenommen und einen Vorschlag zur Erweiterung des geografisch-topografischen Lastenausgleichs in Hinblick auf Artenvielfalt erarbeitet; die Resultate wurden kürzlich in „Basic and Applied Ecology“, dem Fachblatt der Gesellschaft für Ökologie, publiziert (2).

Als Erstrat behandelt die grosse Kammer seit gestern die "Neugestaltung des Finanzausgleichs". gross

Das Konzept des Bundesrates sah in einer ersten Fassung (3) für den geografisch-topografischen Ausgleich eine Gewichtung nach vier Kriterien vor: Die Bevölkerungsdichte wird am stärksten gewichtet (50 Prozent), gefolgt von der Länge des gesamten kantonalen Strassennetzes (25 Prozent), des Waldanteils (20 Prozent) und der Gesamt-Flusslänge (5 Prozent). Die einzelnen Indikatoren werden dann zu einem Index verrechnet; Graubünden und Uri bilden mit 500 Punkten die Oberlimite, Basel-Stadt bekommt mit 2 Punkten den tiefsten Wert zugeteilt. Nach diesem Index sollten 210 Millionen Franken an Ausgleichszahlungen verteilt werden; Graubünden etwa bekäme 100,2 Millionen Franken, Uri 18,5 Millionen, Basel-Stadt hingegen ginge bei diesem Teil des NFA leer aus.


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Die Appenzeller Mittellandgemeinde Trogen würde profitieren, wenn die Artenvielfalt in den Finanzausgleich integriert würde.

Nicht berücksichtigt wird in diesem Konzept die Artenvielfalt. „Biodiversität und die davon abhängigen ökologischen Funktionen sind stark unter Druck“, schreiben die Autoren. „Obschon der Schutz von Biodiversität auf allen politischen Ebenen, von der lokalen bis zur internationalen, vorangetrieben werden sollte, so ist er doch auf der kantonalen Ebene besonders wichtig. Daher wird für die Schweiz vorgeschlagen, Biodiversität im zwischenstaatlichen System der Ausgleichszahlungen zu berücksichtigen, um Anreize für die regionalen öffentlichen Körperschaften zu schaffen.“ Ein Novum, denn ein solches Konzept wird im deutschen Sprachraum bislang erst in Ansätzen in der Wissenschaft diskutiert, etwa als „ökologischer Finanzausgleich“.

Nur Flora berücksichtigt

Um die Biodiversität berechnen zu können, stützten sich Thomas Köllner, Irmi Seidl und Oliver Schelske auf den „Verbreitungsatlas der Farn- und Blütenpflanzen der Schweiz“ von Welten & Sutter (4). „Für eine standardisierte Fläche von 250 Quadratkilometern haben wir statistisch bestimmt, wie viele Arten in jedem Kanton zu erwarten wären“, erklärt Thomas Köllner. Daraus liess sich ein Faktor ableiten, die Grundlage für die Berechnung. Aus diesem „Cantonal species factor“ geht etwa hervor, dass der Kanton Wallis am besten abschneidet, der Kanton Thurgau am schlechtesten. „Doch daraus eine Wertung über mögliche Vollzugsdefizite im kantonalen Naturschutz vorzunehmen, das wäre falsch“, warnt Oliver Schelske, der Index sei eine rein mathematische Grundlage: „Erst ein Vergleich der Artenvielfalt zu verschiedenen Zeitpunkten kann Auskunft darüber geben, in welchen Gebieten sie positiv oder negativ beeinträchtigt worden ist. Aber auch dann braucht es weitere Analysen, um Rückschlüsse ziehen zu können, welche Aktivitäten für die Entwicklung verantwortlich sind. Die Aufgabe von Ökonomen ist es dann, Instrumente vorzuschlagen, die die Aktivitäten in die für den Naturschutz notwendige und von der Gesellschaft gewollte Richtung lenken. Die Integration der Artenvielfalt in den Finanzausgleich wäre solch ein Instrument.“

Die drei Wissenschafter integrierten den „Cantonal species factor“ in das Konzept des Bundes und berechneten daraus verschiedene Szenarien. Die Berechnungen zeigen: Würde man die Biodiversität zu 50 Prozent berücksichtigen, bekäme Graubünden 16 Millionen Franken mehr an Ausgleichszahlungen (insgesamt 116,4 Millionen Franken) als bei der Berechnung des Bundesrates, Obwalden hingegen die Hälfte weniger (insgesamt 2,0 Millionen). Integrierte man den Faktor nur „leicht“, würden die Zahlungen nur geringfügig von der Vorgabe des Bundesrates abweichen (für Graubünden etwa um 3,7 Millionen Franken).

Besseres Verständnis für Artenvielfalt

„Mit unserer Arbeit konnten wir zeigen, dass es möglich ist, Biodiversität in den Finanzausgleich mit einzubeziehen“, sagt Oliver Schelske. Vermutlich werden diese Berechnungen aber nicht in den Finanzausgleich einfliessen, da der politische Prozess zu weit vorangeschritten ist. „Es braucht eine politische und wissenschaftliche Diskussion, ob und wie Biodiversität in den Finanzausgleich integriert werden soll“, schreiben die Forscher in „Basic and Applied Ecology“. „Eine solche Diskussion würde auch zu einem besseren Verständnis der Bedeutung von Fiskalpolitik für den Naturschutz beitragen“, finden die Wissenschafter. „Wenn die Bestimmung der Ausgleichszahlungen zu noch festzulegenden regelmässigen Zeitpunkten immer wieder neu durchgeführt würde, könnte ein Wettbewerb zwischen den Kantonen initiiert werden. Dies wäre kein Steuerwettbewerb, sondern ein Naturschutzwettbewerb: Die Kantone, die ihre politischen Rahmenbedingungen so gestalten, dass sie sich gegenüber ihrer Ausgangslage am meisten verbessern, würden dann vom Bund mehr Mittel erhalten.


Fussnoten:
(1) Neugestaltung des Finanzausgleichs: http://www.efd.admin.ch/d/aktuell/geschaefte/nfa/ und http://www.efd.admin.ch/d/dok/broschueren/infoplus/infoplus19.pdf
(2) „Integrating biodiversity into intergovernmental fiscal transfers based on cantonal benchmarking: a Swiss case study”, Basic and Applied Ecology, 2002, 3 (4): 381-391
(3) Die aktuelle Botschaft zum NFA wurde gegenüber dem von den Wissenschaftern verwendeten Entwurf an mehreren Stellen überarbeitet. Der „geografisch-topografische Lastungsausgleich“ wird beibehalten, das Budget jedoch auf 275 Millionen Franken erhöht. Natürliche Ressourcen werden indirekt berücksichtigt. Kriterien für die Mittelvergabe sind: Die Kantonsfläche über 1080 m.ü.M., die Bevölkerung mit einer Wohnhöhe über 800 m.ü.M. und die Besiedlungsstruktur (Siedlungen mit weniger als 200 Einwohnern und geringe Bevölkerungsdichte).
(4) Swiss web flora, Verbreitungsatlas auf der Grundlage von Welten & Sutter: http://www.wsl.ch/land/products/webflora/welcome-de.ehtml



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