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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 21.04.2006 06:00

Populationsbiologisches Modell zu Grippe
Problematische Prophylaxe

Eine Grippe-Epidemie mit einer vorsorgenden Tamiflu-Behandlung zu bekämpfen, verhindert zwar die meisten Krankheitsfälle, doch hat diese Strategie einen entscheidenden Haken. Von allen Bekämpfungsmassnahmen macht sie die Erreger am schnellsten gegen das eingesetzte Medikament resistent. Das zeigt ein Modell der ETH-Forscher Sebastian Bonhoeffer und Roland Regoes, das heute in der Fachzeitschrift „Science“ (1) veröffentlicht wurde.

Peter Rüegg

Die Forscher gehen in ihrem Modell davon aus, dass in einer geschlossenen Gemeinschaft von 500 Leuten - zum Beispiel in einer Schule oder einer Krankenstation - eine Grippe ausbricht. Zum einen untersuchen sie damit, wie die Grippe verläuft, wenn keine spezifischen Medikamente eingesetzt werden. Zum andern aber wollen sie wissen, wie sich die Krankheit innerhalb der Population entwickelt, wenn die Kranken mit Oseltamivir, also Tamiflu, behandelt werden oder wenn parallel zu dieser Behandlung Nicht-Kranke vorsorglich damit geschützt werden. Schliesslich soll das Modell auch aufzeigen, wie die Dynamik von Resistenzen der Viren gegen dieses Grippemittel verläuft.

Tamiflu verkürzt Grippewelle kaum

Zu Beginn des Krankheitsausbruchs nimmt die Zahl der Patienten relativ rasch zu, erreicht nach 10 Tagen einen Höchstwert und flaut danach langsam ab. Werden die Kranken, die Symptome zeigen, mit Oseltamivir behandelt, so lässt sich deren Zahl nur leicht senken und die Dauer der Grippewelle lässt sich auch kaum verkürzen. Ein anderes Bild zeigt das Modell, wenn das Medikament zusätzlich zur Behandlung vorsorglich verabreicht wird. Durch diese Grippe-Prophylaxe lässt sich die Zahl der Krankheitsfälle drastisch verringern, und die Grippewelle dauert nur gut halb so lang.

Schön, denkt man. Bricht eine Grippe-Pandemie aus, verabreicht man den Gefährdeten prophylaktisch Tamiflu und kann so das Virus unter Kontrolle halten. Die Medaille habe aber eine Kehrseite, sagen die beiden Populationsbiologen Sebastian Bonhoeffer und Roland Regoes vom ETH-Institut für Integrative Biologie: "Die Prophylaxe erhöht den Anteil der gegen Oseltamivir resistenten Viren, die in der Bevölkerung zirkulieren.“

Übertragungsfitness entscheidend

Werden nämlich nur Leute mit Grippesymptomen mit Oseltamivir behandelt, steigt der Anteil an Viren, die eine Resistenz gegenüber dem Medikament neu erworben haben, eher langsam. Ein anderes Bild bietet das Modell, wenn Oseltamivir ausser zur Behandlung vom Kranken auch prophylaktisch eingesetzt wird. Dies erhöht den Druck auf die Viren auf breiter Front. Um zu überleben müssen sie sich rasch an die neuen Bedingungen anpassen. Die Vorsorge mit Medikamenten greift quasi in den natürlichen Wettbewerb zwischen nicht-resistentem Urvirus und resistenten Viren ein – zu Gunsten der Resistenten. Denn nur resistente Viren können Menschen infizieren, welche die Prophylaxe erhalten. Wenn dann durch gewisse Mutationen auch die Übertragungsfähigkeit der Resistenten – die so genannte Transmissionsfitness - besser wird, kann ihr Anteil innerhalb der Virenpopulation abrupt ansteigen, weil ihre Strategie erfolgreicher ist als die der ursprünglichen Krankheitskeime. Die resistenten Viren werden Selbstläufer. Dieser Transmissionsfitness kommt im Modell die Schlüsselrolle für die erfolgreiche Verbreitung resistenter Grippeviren zu.


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Aus Sicht der Populationsbiologie ist die Impfung einer prophylaktischen Behandlung mit Grippemedikamenten vorzuziehen, weil sie den selektiven Druck auf das Virus weniger stark erhöht. gross

Als weniger wichtig für die Verbreitung von resistenten Viren gilt die Rate der von Grund auf neu erworbenen Resistenzen, so genannten de novo Resistenzen. „Sie schien uns wichtig, das Modell zeigte aber, dass dem nicht so ist“, sagt Roland Regoes.

Resistenzen nehmen zu

Gestützt wird das Modell durch „Feldbeobachtungen“. Gegen eine gewisse Klasse von Grippenmitteln, den M2-Inhibitoren, sind weltweit 12 Prozent der sich im Umlauf befindenen Grippeviren resistent, in einzelnen Gebieten Chinas und Hongkongs sogar bis zu 74 Prozent. In den USA waren zu Beginn der vergangenen Grippesaison neun von zehn Grippeviren des Subtyps H3N2 resistent gegenüber den M2-Inhibitoren. Diese Wirkstoffe sollen verhindern, dass sich die Viren in die Zelle einschleusen und dort ihre Erbsubstanz freisetzen können.

„Die Zahl der Resistenzen gegen M2-Inhibitoren blieb lange Zeit tief. In den letzten drei bis vier Jahren ist diese aber bemerkenswert rasch in die Höhe geschnellt“, sagt Sebastian Bonhoeffer. Das gehe aber nur dann so schnell, wenn das Virus trotz der erworbenen Resistenz gut übertragbar bleibt – oder durch Mutationen leicht übertragbar wird. Über die Gründe hierfür können die Wissenschaftler nur spekulieren. Der ETH-Professor vermutet, dass der beobachtete Anstieg darauf zurückzuführen ist, dass die M2-Inhibitoren in vielen Ländern nicht verschreibungspflichtig sind.

Grippe bekämpfen mit einem Aber

Die Seuchenbekämpfung ziele darauf ab, Neuerkrankungen und Todesfälle zu verhindern, sagt Regoes. Wird dazu auf Prophylaxe gesetzt, würde dieses primäre Ziel zwar sehr effektiv erreicht. Allerdings sei das Vorgehen bezüglich der Resistenzentwicklung problematisch. Durch die Prophylaxe wird ein Medikament rascher nutzlos. Ein neues Medikament zu entwickeln sei jedoch ebenfalls schwierig. „Bis etwas Neues auf dem Markt ist, vergehen teilweise Jahrzehnte. Und es muss wirklich etwas Neues sein“, betont er.

Mit der Vogelgrippe im Nacken erscheinen die Ergebnisse der beiden Biologen ernüchternd. Man dürfe ja nicht glauben, dass bei einem massiven Einsatz von Grippemitteln keine Resistenzen entstehen. „Trotz Vorbehalten ist es aber richtig, diese Medikamente im Fall einer Pandemie auch prophylaktisch einzusetzen“, betont Bonhoeffer. Medikamente seien klar die erste Verteidigungslinie im Kampf gegen eine Pandemie, und hoffentlich könne man durch eine antivirale Behandlung Zeit gewinnen zur Entwicklung eines Impfstoffs. Einem Impfstoff gibt er allerdings den Vorzug, weil der evolutionäre Druck auf den Erreger kleiner sei. Der Nachteil einer Impfung sei die lange Vorlaufzeit und dass der Impfstoff auf das Virus passen müsse. Aber dessen genaue Eigenschaften kenne man ja erst dann, wenn es da sei.


Fussnoten:
(1) Regoes, R.R. & S. Bonhoeffer (2006): Emergence of Drug-Resistant Influenza Virus: Population Dynamical Considerations, Science 313. http://www.sciencemag.org



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