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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 01.09.2003 06:00

Kongress über Decision-Making an der ETH
Licht ins Dunkel von Entscheiden

Alleingang, unters Dach der „Lufthansa“ oder der „British Airways“? Zum „Swiss“-Kurs gibt es mindestens so viele Meinungen wie Stammtische. Auch Weichenstellungen mit weniger Echo belasten die jeweils Verantwortlichen, weil die Folgen zuwenig einsichtig sind. Die Forschung zum Decision Making bietet Analysen und Strategien für den Umgang mit dieser Unsicherheit. Ein Kongress dazu letzte Woche an der ETH führte Fachleute aus aller Welt zusammen.

Norbert Staub

Das haben Entscheidungen – gerade auch „entscheidende“ – so an sich: Man weiss erst, was sie taugen, wenn sie nicht mehr rückgängig zu machen sind. Darüber, wie sie zustande kommen und wie die Entscheid-Prozesse optimiert werden können, wird in verschiedenen Disziplinen geforscht: Mediziner, Psychologen, Ökonomen und Umweltwissenschaftler haben sich letzte Woche an der ETH im Rahmen der internationalen Konferenz „on Subjective Probability, Utility, and Decision Making“ (SPUDM19) ausgetauscht. „Der Reiz dieses Kongresses liegt in seiner betonten Interdisziplinarität“, sagt ETH-Ökonomieprofessorin Renate Schubert, die SPUDM19 mit organisiert hat. So sei für einen Mediziner, der sich für eine Therapieform entscheiden muss, aufschlussreich zu verfolgen, welche Strategien eine Wirtschaftswissenschaftlerin wählt – und umgekehrt.

Neue Phänomene in den Griff bekommen

Vergleichsweise klar liegen die Verhältnisse laut Renate Schubert dort, wo Entscheidungen mit Erfahrungswerten gestützt werden können. „Wenn zum Beispiel Daten über die Diebstahlhäufigkeit bei Velos vorhanden sind, lässt sich die Wahrscheinlichkeit dafür ermitteln, ob oder wann auch mein Fahrrad gestohlen wird“, sagt die Ökonomie-Professorin. Entsprechend sicher sei die Informationsbasis für oder gegen Massnahmen gegen Diebstahl, beispielsweise den Abschluss einer Versicherung.

Wenn es jedoch um gänzlich neue Phänomene geht wie den Treibhauseffekt, individuelle Krankheiten oder die Gründung eines High-Tech-Unternehmens, fehlen solche Daten. Mit verschiedenen Verfahren wird hier versucht, „Wahrscheinlichkeitssurrogate“ für die künftigen Ergebnisse von Handlungen herzustellen, etwa durch Expertenbefragungen. Zudem zieht man Entscheidungsmodelle heran, die ohne präzis quantifizierende Entscheidhilfen auskommen und zum Beispiel mit Wahrscheinlichkeitsintervallen arbeiten. Licht in den Dschungel der je unterschiedlichen Entscheidungs-Bedingungen in Finanzindustrie, Arbeitsmarktpolitik oder Umweltpolitik bringen unter anderem Faktorenanalysen.


Baruch Fischhoff: „Ehrlicher kommunizieren“

(mib) „Je besser die Vorbereitung ist, desto treffender wird die Entscheidung ausfallen.“ Auf den ersten Blick eine banale Feststellung. Doch wer analysiert, wie Entscheidungen zustande kommen, wird schnell auf ein komplexes Muster stossen. Baruch Fischhoff, Professor of Social and Decision Sciences und Professor of Engineering and Public Policy an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh, gilt weltweit als einer der führenden Experten auf diesem Gebiet (1). Er hielt am SPUDM-Kongress den Eröffnungsvortrag.

Fischhoff teilt den Prozess der Entscheidfindung in sechs Bereiche ein. In einer ersten Phase muss das Problem erkannt werden (Initiation). Darauf folgt die Analyse, die zu einer klaren Aussage führt (Estimation). Nun kann das Problem beurteilt werden (Evaluation). Nach einer weiteren Risikoanalyse (Control) kann nun die Handlung folgen (Action), die von einem Monitoring beobachtet wird.

Ganz so einfach ist diese Systemanalyse nicht: So muss zum Beispiel festgestellt werden, wie das Risiko bewertet werden soll. „Auf der Packungsbeilage eines Medikaments werden viele Risiken angegeben, nicht alle treffen ein“, sagt Fischhoff. Auch der Umgang mit dem Risiko muss eingeschätzt werden – etwa die Handhabung der Chemikalie Methylenchlorid. Fischhoffs Team hat in vielen Gesprächen erforscht, wie mit der Chemikalie hantiert wird. Auch die Weltanschauung spielt bei der Entscheidfindung eine grosse Rolle: „An den Schulen der USA wird nicht über Sex gesprochen. Auf der Strasse werden die Jugendlichen aber mit Informationen zu Aids überflutet“, sagt Fischhoff und fragt: „Wie sollen Teenager diese Informationen nun einordnen?“ Er rät deshalb zu einer besseren (und ehrlichen) Kommunikation, die sich an alle Betroffenen richtet und sie an einer allfälligen Entscheidung teilhaben lässt.




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Untersucht, wie sich Entscheidprozesse bei Frauen und Männern unterscheiden: ETH-Ökonomieprofessorin Renate Schubert. gross

Wichtige Rolle des „Bauchgefühls“

Laut Renate Schubert hat die Wissenschaft lange ausgeblendet, dass auch in scheinbar mit Kalkül vorgenommene Risiko-Abschätzungen und Entscheidungen Emotionen hineinspielen. Die Psychologie bietet Verfahren an, diesen denkbar „weichen“ Faktor zu operationalisieren – SPUDM19 legte darauf ein besonderes Augenmerk. „Man stellt sich beispielsweise vor, wie gross die persönliche Enttäuschung wäre, wenn diese oder jene erwartbare, aber unerwünschte Folge einer bestimmten Entscheidung eintreten würde“, erläutert die ETH-Ökonomin. “Werden stark negative Emotionen geweckt, liegt es nahe, einen anderen Entscheidungsweg einzuschlagen.“ Studien mit Versuchspersonen – in der Entscheidungsforschung generell unabdingbar – ergänzen und verfeinern derartige „Regret“-Ansätze.

Verborgene Entscheidungsmacht

Am ETH-Institut für Wirtschaftsforschung werden risikobehaftete Entscheidprozesse gruppenspezifisch untersucht. Der Fokus liegt speziell auf der Differenz Frauen – Männer. Frauen, so der Befund verschiedener Studien, neigen zu risikoärmerem Anlageverhalten als Männer, und sie verzichten damit auf potenzielle künftige Erträge. „Experimente zeigen, dass man Frauen das Risiko schmackhaft machen kann, wenn man sie sehr gut informiert“, sagt die ETH-Ökonomin. Die Banken zeigen an dieser Forschung Interesse. Sie hätten die wachsende Gruppe von Frauen mit guter Vermögenslage als Kundenpotential entdeckt.

In einer Welt, deren Komplexität zunimmt, wird bei Weichenstellungen die Rolle der Information laufend wichtiger. Entsprechend wächst auch der Stellenwert der Fachleute: „Eines der Ziele solcher Kongresse ist, transparent zu machen, dass viel sozusagen ‚verborgene’ Entscheidungs-Macht bei Experten konzentriert ist. Und nicht bewusst ist in der Regel auch, dass solche Expertise stets bereits Wertungen impliziert“, hält Renate Schubert fest. Die Entscheidungstheorie trage zur Klärung dieser Prozesse bei.

SPUDM19 ist laut Renate Schubert auf sehr gute Resonanz gestossen. Gut 230 Teilnehmende waren zu verzeichnen – mehr als die Organisatoren erwartet hatten.


Max Bazerman: „Voraussagbare Überraschung“

(cm) „Voraussagbare Überraschung“ – eine sicher gewollte Irritation von Max Bazerman, der am Dienstag am SPUDM-Kongress sprach. Der Gast von der Harvard Business School (2) wollte damit auf Entwicklungen aufmerksam machen, bei denen zwar das Problempotenzial erkannt wird, aber trotzdem keine Massnahmen ergriffen werden.

Als Beispiele für voraussagbare Überraschungen führte Bazerman die Terroranschläge des 11. September und den Kollaps des Energiekonzerns Enron an. So waren im ersten Fall die Sicherheitslücken bei der amerikanischen Luftfahrt bekannt. Und bei Enron war eigentlich klar, dass die Unabhängigkeit der Revisoren nicht gewährleistet war. Doch werden solche Probleme mittlerweile gezielt angegangen? Bazerman antwortete mit einem klaren Nein. Einerseits werde oft falsch fokussiert, andererseits ständen Egozentrismus, positive Illusionen und der fehlende Einbezug der Zukunft einer effektiven Prävention im Wege. Zudem würden häufig Entscheidungen anderer sowie die Spielregeln verschiedener Systeme ignoriert. Dazu lieferte Bazerman auch Zahlenmaterial.

Wie weit aber dieses Wissen hilft, Missstände zu beheben, konnte auch der Fachmann nicht beantworten. Er wies jedoch auf mögliche weitere voraussagbare Überraschungen hin. Die globale Erwärmung und das Problem der Rentenfinanzierung waren nur zwei Beispiele aus einer alles andere als ermutigenden Liste.




Fussnoten:
(1) Baruch Fischhoff, Carnegie Mellon University: www.epp.cmu.edu/people/bios/fischhoff.html
(2) Max Bazerman, Harvard Business School: www.people.hbs.edu/mbazerman/



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