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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 20.10.2003 06:00

ETH und Uni: Akademisches Jahr im Zeichen der Wissenschaftskultur
Der Wahrheit verpflichtet

Auf dem Hochschulplatz Zürich stehen die kommenden zwei Semester im Zeichen der breiten Diskussion über die Wissenschaftskultur. ETH, Universität und Collegium laden ein zur Selbstreflexion der Forschenden „über Geld, Kultur und Qualität“. Aus diesem Anlass ein Gespräch mit ETH-Präsident Olaf Kübler.

Interview: Christoph Meier und Norbert Staub

Herr Kübler, die ETH-Schulleitung hat die Initiative zur zweisemestrigen Diskussionsreihe „Wissenschaft kontrovers“ am Collegium Helveticum ergriffen. Thema ist eine „Selbstbefragung“ der Wissenschaft „über Geld, Kultur und Qualität“. Was hat Sie zu dieser Hinterfragung veranlasst?

Olaf Kübler: Das Thema liegt in der Luft. ETH und Uni stellen am Hochschulplatz Zürich ein ganzes akademisches Jahr unter das Generalthema ‚Kultur der Wissenschaft’. Diese ist ein enorm wertvolles Gut, das es zu pflegen und weiter zu entwickeln gilt. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich mit der zunehmenden Bedeutung vor allem der naturwissenschaftlichen Forschung eine eigentliche Kultur der Objektivität und Wahrhaftigkeit entwickelt. Ich betrachte dies als ein unveräusserliches Erbe unserer Zivilisation; dahinter darf die Wissenschaft keinesfalls zurück. Nun wissen Sie auch, dass sich in den letzten Jahren der Erfolgsdruck in allen Bereichen der Gesellschaft – Wirtschaft, Sport, im Kulturbetrieb und auch in der Wissenschaft – dramatisch verstärkt hat. Mit der Folge, dass auch die Versuchung, unlautere Wege einzuschlagen, zugenommen hat. Die Forschung blieb davon nicht unberührt. So haben in jüngster Zeit Fälschungsskandale die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft schwer bedroht.

"Sich korrekt zu verhalten wird leichter, wenn eine stabile Kultur vorhanden ist und etablierte Normen gelten", sagt ETH-Präsident Olaf Kübler. gross

Ein Merkmal der Wissenschaft ist der Publikationsdruck. Verführt der immanente Zwang, besser und schneller zu sein als andere, nicht geradezu zu solchem Fehlverhalten?

Genauso wie der Journalist den Primeur sucht, möchte der Forscher auf seinem Gebiet der erste sein. Ich meine, die Stärke des Charakters zeigt sich erst unter Druck. Aber: Sich korrekt zu verhalten wird leichter, wenn eine stabile Kultur vorhanden ist und etablierte Normen gelten. Diese Forschungskultur zu entwickeln, ist deshalb eine wichtige Aufgabe der Hochschulen. Konkret haben wir eine Gruppe von Kolleginnen und Kollegen gebeten, Richtlinien für die Forschungskultur an der ETH zu formulieren. Diese liegen nun vor und werden an alle Forschenden verteilt. Vor allem aber hat diese Gruppe eine Verfahrensordnung entwickelt, die bei Verdacht auf Fehlverhalten in der Forschung der ETH Zürich zur Anwendung kommen soll (1). Diese geht nun in die Vernehmlassung. Und im Zuge der Veranstaltungsreihe „Wissenschaft kontrovers“ sollen offene Fragen in dieser Thematik diskutiert werden.

Erscheint aber in einem so kompetitiven Feld wie der Wissenschaft nicht jedes Mittel recht – auch das zweifelhafte?

Wer die Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzt, gefährdet die Wissenschaft als ganze. Dass das System selbst beeindruckend stabil ist, hat auch der Fall wissenschaftlichen Fehlverhaltens im Bereich Physik der kondensierten Materie bei den Bell Labs zwischen 1998 und 2001 gezeigt. Diesen Fall hat eine eigens eingesetzte Kommission unter Stanford-Professor Malcolm Beasley exemplarisch fair und gewissenhaft untersucht und geklärt, wo gesündigt wurde. Die Beasley-Kommission hat festgestellt, dass sich der Hauptautor des "scientific misconduct" schuldig gemacht hat. Die Co-Autoren wurden explizit davon freigesprochen. Gleichzeitig aber wies die Kommission darauf hin, dass es zur Frage der Verantwortung der Co-Autoren noch keinen etablierten Kanon gibt und dass insbesondere die Rolle der Gruppen-Verantwortlichen der Klärung bedarf.


"Wissenschaft – kontrovers"

Organisiert wird die zwei Semester dauernde Veranstaltungsreihe „Wissenschaft kontrovers – eine Selbstbefragung über Geld, Kultur und Qualität“ ist das Collegium Helveticum. Eröffnet wird sie am 3. November von Olaf Kübler und Hans Weder und einem Abend zu „Forschungswesen und -werten unter dem Einfluss von Wirtschaft und Gesellschaft“ (ETH-Hauptgebäude, Audimax, 19.30 bis 21 Uhr). Im Zwei- bis Dreiwochen-Rhythmus geht es dann weiter mit Diskussionen zur Forschungsfinanzierung im Zeitalter der Mittelverknappung („Geist und Geld“), zu den Leitbildern, welche sich die Wissenschaft geben soll („Im Zentrum der Mensch?“; „Ende der Diskussion?“) und zur Mitsprache der Öffentlichkeit bei der Forschung. Weitere Veranstaltungen folgen im Sommersemester 2004.




Forschende arbeiten im Spannungsfeld verschiedenster Ansprüche von Gesellschaft, Wirtschaft, Medien und Wissenschaftsbetrieb. (Illustration: Marisa Grassi) gross

Wie ist denn Ihre persönliche Haltung zur Co-Autor-Frage?

Auf einer Publikation sollte nur vertreten sein, wer einen substanziellen Beitrag geleistet hat. Es herrscht häufig die Usanz, den Namen des Gruppenleiters obligatorisch auf den Arbeiten aufzuführen. Bei den Bell Labs war es offenbar so. Wenn aber sehr viel publiziert wird, ist es in der Praxis fraglich, ob der Verantwortliche noch genügend Zeit hat, die Resultate seriös zu überprüfen und zu beurteilen.

Der erwähnte grosse Betrugsfall an den Bell Labs hat bekanntlich auch die ETH betroffen: der damalige Gruppenleiter war inzwischen an der ETH Professor geworden. Wie reagiert die ETH nun konkret auf diesen Fall?

Wir haben uns von dem Bericht der Beasley-Kommission leiten lassen. Zentral für uns war, wie wir mit der angesprochenen offenen Problematik, nämlich der Verantwortung des Gruppenleiters, im Nachhinein umgehen sollen. Wir müssen diesen Kanon erst entwickeln. Es wäre für mich unethisch, ein Gesetz retrospektiv anwenden zu wollen. Wir haben uns dafür entschieden, dem Kollegen einen wissenschaftlichen Neuaufbau zu ermöglichen.

Einerseits wächst die gesellschaftliche Bedeutung der Wissenschaften. Andererseits wird auch immer mehr kritisiert, die Forschung übergehe gesellschaftliche Bedürfnisse und verhalte sich teilweise wenig moralisch und nachhaltig. Soll sich die Wissenschaftskultur solche Kritik zu eigen machen?

Es kommt darauf an, welche unmittelbaren Folgen eine wissenschaftliche Entwicklung zeitigt. Wer sich als Physiker mit Neutronensternen beschäftigt, kann relativ unbehelligt „reine“ Wissenschaft treiben. Ich selbst jedoch habe als Physiker in meiner Ausbildung die Debatten um die Kernenergie, besonders um die Atombombe, hautnah miterlebt. Heute entzündet sich an der Gentechnologie eine ähnlich heftige Diskussion. Die Sensibilität, dass die Entdeckungen und Entwicklungen, die man macht, neben den intendierten auch negative Effekte haben können, ist bei jedem Wissenschaftler heute da.

Sie verlangen von Forschenden Objektivität und Wahrhaftigkeit. Gibt es für Sie weitere Kriterien der Wissenschaftskultur?

Wissenschaft muss intellektuell hochstehend sein, spannend sowie relevant. Und ich glaube, Wissenschaft sollte im Dienst der Gesellschaft stehen – dies oft aber zwangsläufig nur mit grosser Verzögerung und nicht ausschliesslich.

Die Öffentlichkeit erwartet von der Wissenschaft Gewissheit. Forschung bewegt sich aber per se auf unsicherem Grund. Müsste es nicht Teil der Wissenschaftskultur sein, auch Nichtwissen und Unsicherheiten nach aussen transparent zu machen?

Ja, absolut. Das Wesen der Wissenschaft ist doch, dass sie durch Zweifel, durch Infragestellung weiterkommt. Sich gegenüber der Gesellschaft den Schein der Allwissenheit zu geben, ist keine Option. Die Gesellschaftswissenschaften können den Naturwissenschaften vielleicht helfen, noch besser zu vermitteln, was der Fall ist.

Nun ist die Wissenschaft kein kohärentes Ganzes, sondern in zahlreiche Disziplinen aufgesplittert, die zum Teil nicht kommunizieren. Wird eine einzige Wissenschaftskultur dem gerecht?

Die Wissenschaft ist heute soweit, dass sie grosse Themen integral angehen kann, indem sie das nötige Wissen um ein Thema herum gruppiert und dieses im Austausch in all seinen Aspekten bearbeitet. So kommen auch bei naturwissenschaftlichen Themen schnell gesellschaftswissenschaftliche Fragen ins Spiel. Das heisst aber auch, dass die Kriterien Objektivität und Wahrhaftigkeit zwingend für alle Teilaspekte gelten müssen.

Und wenn die Gesellschaft etwas ablehnt, was die Forschung anbietet?

Es ist die Gesellschaft, welche Wissenschaft letztendlich finanziert. Sollte sich politisch eine Forschung nicht durchsetzen lassen, werden die Wissenschaftler sich danach richten.

Könnte der Begriff "Wissenschaftskultur" nicht so missverstanden werden, dass deren Standards auf die Forschungssphäre beschränkt sind und ausserhalb nicht gelten?

Ich zitiere dazu den Chemie-Nobelpreisgewinner John Polliani: „Wissenschaft hat eine zivilisierende Wirkung, weil sie die Wahrheit über alles stellt, auch über persönliche Interessen“. Das ist nicht auf die Wissenschaft beschränkt, sondern es geht hier um ethische Standards, die auch sonst in unserem Leben gelten sollten. – Zugegeben: Das sind hochgesteckte Standards.


Literaturhinweise:
Website des Collegium Helveticum: www.collegium.ethz.ch/

Fussnoten:
(1) Vgl. dazu „ETH Life Print“ vom 12. September 2003, S. 5.



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