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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen |
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Songlines |
Von Christoph Küffer Vor einigen Jahren waren Magische-Auge-Bücher in Mode. Sie zeigen Farbmuster, die bei konzentriertem Anstarren überraschend als dreidimensionale Bilder erscheinen. Früher habe ich mir oft erhofft, meinen Untersuchungswald mit magischem Auge neu zu sehen. Ich lag tagträumend auf dem Waldboden und blickte ins Blätterdickicht. Dabei stellte ich mir vor, alle untersuchten Zusammenhänge und Einzelheiten in einem Augenblick als Ganzes erfassen zu können. Durch die Oberfläche den Kern sehen. Das Wesentliche in den Händen halten. Aber Ökologen denken mit den Füssen. Wahrnehmen geschieht beim Gehen. Ökologie ist Geschichten erzählen in der Landschaft. Klapperschlangen leben in einem geordneten Raum. Sie benutzen die gleichen Orte, um sich zu häuten, sich zu paaren, und zu überwintern. Verborgene Pfade spannen ihre Territorien auf. Russseeschwalben verbringen acht Monate pro Jahr ununterbrochen in der Luft über dem offenen Meer. Dann kehren sie zum Brüten auf ihre Insel zurück. Oft an die gleiche Stelle innerhalb der Brutkolonie.
In den Seychellen wurden exotische Drachenblutbäume gepflanzt, um Grundstücke zu markieren. Deshalb wurden sie, im Gegensatz zu den einheimischen Bäumen, nicht abgeholzt. Die seltenen Seychellen-Eulen brüteten in Höhlen von alten Drachenblutbäumen. Bis diese von Parasiten befallen wurden. Nun bezeichnen Gerippe von toten Bäumen die Stellen im Wald, die Grundbesitz abgrenzten, bevor dort Eulen brüteten. Besonderheiten einzelner Arten und zufällige Ereignisse passen nicht in eine abstrakte wissenschaftliche Theorie, und prägen doch die Zusammenhänge in der Natur.
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Das Buch "The Songlines" von Bruce Chatwin erzählt von einer Reise zu den Aborigines Australiens. Gemäss Chatwin sind Songlines gesungene Landschaftspartituren aus mythischer Urzeit, die das dürre Buschland Australiens in ein labyrinthisches Netz von Wanderpfaden aufteilen. Mir gefällt die Vorstellung von Liedern, durch die man eine Landschaft wandernd verstehen lernt. Traditionelles Wissen spricht in Geschichten von lokalen Zusammenhängen in der Natur. Der Pazifik wurde besiedelt, indem sich die Polynesier anhand von erzähltem Wissen auf dem Ozean orientierten. Die Russseeschwalben etwa deuteten durch ihre Flugrichtung eine nahe Insel an. Ich habe Julie Harboe, zuständig für Kunst am Collegium Helveticum, von dieser Kolumne erzählt. Sie hat mich auf die Aktionen von San Keller aufmerksam gemacht. In "The long way home" begleitete der Zürcher Performance-Künstler Leute durch das winterliche New York nach Hause. 10 Uhr abends trafen sich die Teilnehmer im Stadtzentrum, ohne sich zuvor gekannt zu haben. Gemeinsam entschieden sie sich für eine Route, die am Ende alle vor ihre Haustüren führte. Wer zu Hause ankam, lud die verbliebenen Gruppenmitglieder zu einem Imbiss ein, bevor diese weiter gingen. Bis San Keller als letzter übrig blieb. Während Chatwins Songlines als abgeschlossene Erzählungen über Generationen weitergegeben wurden, sind die Long Walks von Keller offene Dialoge. Kürzlich habe ich in einem Artikel von einer Wanderung erzählt, um über Naturschutz in den Seychellen zu schreiben. Ich wollte aufzeigen, dass sich Renaturierungsprojekte an der bestehenden Situation statt der Idealvorstellung eines ungestörten Waldes orientieren sollten. Ich bin in meiner Erzählung einem Pfad gefolgt, den ich oft gemeinsam mit ortsansässigen Förstern gehe. Durch sie habe ich den Wald kennen gelernt. Sie haben den selben Weg lange vor mir benutzt: der Eulenforscher auf der Suche nach Bruthöhlen, der Ökotourismus-Berater, der ein Wanderwegnetz plante, und die Botanikerin, die eine rote Liste der Seychellen-Pflanzen erarbeitete. Noch früher ging ich diesen Weg mit dem Forstbeamten der Kolonialregierung, der die Holzproduktion optimieren wollte, und den Zimtöl-Destilleuren beim Sammeln von Zimtrinde. Jeder Long Walk führte entlang alter Songlines und ergänzte diese mit neuen Songlines.
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