ETH Life - wissen was laeuft

Die tägliche Web-Zeitung der ETH Zürich - in English

ETH Life - wissen was laeuft ETH Life - wissen was laeuft
ETH Life - wissen was laeuft
Home

ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
Print-Version Drucken
Publiziert: 14.12.2006 06:00

Formel 1, Nr. 1, mit fliegendem Start

Leonhard Kleiser

Als ich Mitte August 2006 dieses temporäre Amt einer Amateur-Schreibkraft übernahm, hatte ich mir hübsch die Themen zusammengestellt, über die zu schreiben sein sollte. Um ETH-Identität und ETH-Kultur als Grundlagen der anstehenden Reformen, unerfreuliche Fehlentwicklungen etwa im wissenschaftlichen Publikationswesen und bei der Forschungsförderung, grassierende Evaluationitis und Ranglistengläubigkeit, um die darniederliegende ETH-interne Kommunikation, den gefrässigen Moloch der Bürokratie, um Bemerkungen zum Lehren und Lernen und die Pflege einer besseren Sprachkultur an der ETH (in Deutsch wie in Englisch) sollte es gehen. Die ETH sollte aufgefordert werden, sich intern zu verbessern und extern, wie schon beim Bologna-Prozess, die Initiative zu ergreifen und eine Vorreiterrolle auch bei der Beseitigung weithin erkannter Missstände zu übernehmen.

Davon ist bislang nicht viel übriggeblieben. Die dramatische Tagesaktualität hat das, was hier ins Blickfeld zu nehmen ist, weil es „auf den Nägeln brennt“, stets neu definiert. Die damals unter der Oberfläche fühlbaren Spannungen haben sich in einem Seebeben entladen, dessen resultierender Tsunami (etymologisch eine „Hafen-Welle“) den ETH-Präsidenten aus dem Amt gerissen hat. Einige der genannten Aspekte sind von anderen Kolumnisten oder Kommentatoren im Forum von ETH Life aufgegriffen worden, und die soeben gestartete „ETH-Debatte“ (1) wird hoffentlich eine vertiefte Auseinandersetzung mit einigen der genannten Themen erlauben.

Dass wir derzeit keinen vollamtlichen Präsidenten haben, scheint in unserem Alltag fast schon in Vergessenheit geraten zu sein. Die Schulleitung, ihre Mitarbeiter wie auch die zur Entlastung herangezogenen Kollegen verdienen unseren Respekt für die erfolgreiche Handhabung der anhaltenden Ausnahmesituation. Während die Vorbereitung der Kandidatenwahl für das Amt der Rektorin / des Rektors durch die Professorenschaft anfangs Juni 2007 in guten Händen ist, verdient die Wahl des Präsidenten / der Präsidentin nach den gemachten Erfahrungen bis zu ihrem erfolgreichen Abschluss unsere höchste Aufmerksamkeit (2).

Konrad Osterwalder hat am ETH-Tag die Vorteile und gleichzeitig auch die Erfolgsbedingungen des an der ETH seit ihrem Beginn bewährten präsidialen Führungssystems, mit seiner Konzentration der Entscheidungskompetenzen in wenigen Händen, auf den Punkt gebracht (3): „Man hat längst die Weisheit dieses Konzeptes erkannt, das eine grosse Beweglichkeit und eine effiziente Qualitätssicherung möglich macht. Allerdings hat sich als Gegenstück dazu eine hochstehende Kultur der breit angelegten Mitsprachekompetenz entwickelt, welche die auf eine oder wenige Personen beschränkte Entscheidungskompetenz wirkungsvoll ergänzt. ... Dieses Gleichgewicht einer schmalen Mitbestimmungspyramide verankert in einer Basis von breit angelegter Mitsprache will gepflegt und immer wieder erneuert werden; es nicht zu beachten ist gefährlich.“

Der ETH-Rat wird nun seinerseits gut daran tun, derart bewährte Grundsätze nicht in den Wind zu schlagen, Gefahren und unnötige Risiken zu meiden und die unzweideutigen Forderungen der Professorenschaft nach Mitwirkung in dem Findungsprozess zu berücksichtigen (4). Bei der Benennung der Wahlkommission sollte er sich an die Erkenntnis erinnern, dass „eine erstklassige Kommission einen erstklassigen Kandidaten wählt“.

Die Hochschulversammlung, also die gewählte Vertretung von Dozentenschaft, Mittelbau, Studierenden und administrativ-technischen Mitarbeitern, hat Vorarbeit geleistet und dem ETH-Rat ein wohldurchdachtes Qualifikationsprofil für Präsidentschaftskandidaten vorgelegt (2). Drei Eigenschaften erscheinen mir am wichtigsten: eine überzeugende Persönlichkeit, Persönlichkeit und Persönlichkeit. Dazu kommen sollte eine ausgewiesene Führungsstärke gepaart mit einem feinen Gehör, eine breite interne Abstützung und eine gute nationale und internationale Vernetzung, um die Interessen der ETH Zürich wirkungsvoll vertreten zu können.

Es bestehen Befürchtungen, dass man versucht sein könnte, einen externen Manager als Präsidenten anzustellen, der dann womöglich wiederum glaubt, erst einmal alles umkrempeln zu müssen, dabei jedoch vor allem viel Flurschaden anrichtet und wenig Positives erreicht. Nach Gesprächen auch mit führungserfahrenen Personen ausserhalb der Hochschule komme ich zu dem Schluss, dass in unserer heutigen Situation die Wahl eines hervorragenden internen Kandidaten am erfolgversprechendsten ist, der sich nicht erst von einer verantwortungsvollen Tätigkeit in einem ganz anderen Gebiet freimachen und sich dann erst einmal an die ETH akklimatisieren muss, sondern der die ETH-Kultur lange verinnerlicht hat und im Spätsommer 2007 tatsächlich bereit steht. In einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit der neuen Rektorin und den zwei Vizepräsidenten vermag er so die Position der Nr. 1 in der Formel 1 des Schweizer Bildungssystems mit fliegendem Start ohne weitere Zeitverluste zu stärken und auszubauen (2).


weitermehr

"ETH Life"-Kolumnist Leonhard Kleiser, ETH-Professor für Strömungslehre am Institut für Fluiddynamik.

Interne Besetzungen von Führungsämtern sind im übrigen - anders als etwa bei der Wiederbesetzung von Professuren - auch in der Wirtschaft durchaus nicht unüblich. Beispielhaft sei auf die schon vor einem Jahr bekanntgegebene Nachfolgeregelung in der Hilti-Konzernspitze ab 2007 hingewiesen: “Hilti verfolgt die klare Politik der Kontinuität. Für die Wahl in die Konzernleitung bezieht der Konzern nur interne Kandidaten ein, die über längere Zeit erfolgreich die Hilti-Kultur verkörpert und vorgelebt haben“ (5). Vermutlich lässt sich so tatsächlich „Mehr Leistung. Mehr Zuverlässigkeit“ erzielen!

Die ETH ist es gewohnt, sich in der jeweiligen Gegenwart fruchtbar mit ihrer Zukunft und ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, wie das hervorragend gelungene Projekt des 150-jährigen Jubiläums erst wieder überzeugend vor Augen geführt hat (6). Wir stehen in vielerlei Hinsicht in einer Kontinuität und sollten davon lernen, wie frühere Generationen die Herausforderungen ihrer Zeit gemeistert und so die Grundlagen für unsere ausgezeichnete heutige Position gelegt haben.

In diesen Kontext mögen die folgenden Überlegungen passen. Hunderte von ETH-Angehörigen und Passanten durchschreiten täglich das Nordportal des Hauptgebäudes, Tausende warten an der Tramhaltestelle Tannenstrasse oder fahren dort vorbei. Hoch über ihren Köpfen und vor ihren Augen, von den meisten wohl unbemerkt, künden die Figuren und Inschriften der berühmten Sgraffiti des Architekten Gottfried Semper vom Geist der ETH-Gründerzeit: „non fuerat nasci nisi ad has scientiae artes - harum palmam feretis“ (es wäre nicht wert geboren zu werden, wenn nicht für Wissenschaften und Künste – in ihnen werdet ihr den Siegespreis davontragen) (7).

Die gleichwertige Betrachtung von Wissenschaft und Kunst und das leichte Pathos des noch bis ins vergangene Jahrhundert verbreiteten Bildungsguts mögen vielen heute fremd geworden sein (8). Wie aber, wenn wir uns dennoch - gerade vor und nach den bevorstehenden „besinnlichen Tagen“ - ab und zu im Vorbeigehen einen der uns dort ans Herz gelegten Grundsätze, nach denen wir unsere Geschäfte besorgen sollten, herunterpflückten und mit in den Tag oder den Feierabend nähmen? Jeder mag sich sein Sträusschen selbst binden: etwa als Führungskraft jeglicher Stufe „exemplo“, „audacia“ und „impetu“ (mit Vorbildlichkeit, Kühnheit und Leidenschaft), als Forscher „inventione“ und „acumine“ (mit Erfindungsreichtum und Scharfsinn) und als Dozent, Student oder Mitarbeiter „cura“ und „disciplina“ (mit Sorgfalt und Disziplin). Es schliesst sich zwanglos ein Kreis zur Zukunftsgestaltung der ETH: Olaf Küblers Schlussfolgerung nach seiner Rückkehr von einer kürzlich abgeschlossenen Explorationsreise zu führenden Universitäten im asiatischen Raum lautete: „Wir werden wieder disziplinierter arbeiten und lernen müssen, als wir es in den letzten dreissig Jahren gewohnt waren“ (9).


Zum Autor

„Mich fasziniert, dass es in meinem Forschungsgebiet möglich ist, ein scheinbar regelloses chaotisches Geschehen – nämlich die fast überall vorkommende Turbulenz – für praktische Anwendungen beherrschbar zu machen; und dies mit zunehmendem Erfolg“, sagt Leonhard Kleiser, seit 1994 Professor für Strömungslehre am ETH-Institut für Fluiddynamik. Sei es bei der Strömung um Autos oder Flugzeuge, durch Turbinen oder Pipelines, bei Prozessen in der Erdatmosphäre, im Erdinnern oder im Weltall: Viele Ingenieure und Wissenschaftler müssten sich irgendwann mit Turbulenz auseinander setzen, sagt Kleiser. Zur Klärung der Grundlagen arbeitet sein Team einerseits mit enorm aufwendigen Computersimulationen, andererseits entwickelt es neue Modellkonzepte für künftige praktische Strömungsberechnungen.

„Unsere Grundlagenarbeit hat in Bezug auf die industrielle Anwendung einen Vorlauf von fünf bis zehn Jahren“, sagt Kleiser. Gleichwohl geht es hier auch um Probleme, die heute schon unter den Nägeln brennen. Die Gruppe untersucht derzeit beispielsweise intensiv, wie Strömungslärm beim Start von Düsenjets entsteht und sich ausbreitet.




I


Fussnoten:
(1) Link zur Rubrik "ETH-Debatte": www.ethlife.ethz.ch/articles/ETHdebatte/
(2) Jede Geschlechtervariante ist hier und im folgenden stets gleichwertig mitgemeint.
(3) Konrad Osterwalder ETH-Tags-Rede 2006 unter: www.ethz.ch/news/ethupdate/2006/061118_1/rede_osterwalder.pdf
(4) Siehe: www.ethlife.ethz.ch/articles/forum/GugerliDavid.html
(5) Siehe dazu: www.hilti.com/holcom/modules/editorial/edit_singlepage.jsp?contentOID=189441
(6) M.K. Eberle, N. Schwyzer, E.M. Keller (Hrsg.): Heute für morgen das Gestern feiern. Verlag NZZ, 2006. S. auch: www.ethhistory.ethz.ch/
(7) W. Oechslin (Hrsg.): Hochschulstadt Zürich, gta Verlag 2005 – S. auch: www.ethlife.ethz.ch/articles/tages/semperbau.html
(8) M. Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität. Reclam, 2002
(9) „An der ETH herrscht asiatischer Fleiss“, Interview mit O. Kübler, NZZ am Sonntag, 18. November 2006 www.nzz.ch/2006/11/19/ws/articleENRUN.html



Sie können zu diesem Artikel ein Feedback schreiben oder die bisherigen lesen.




!!! Dieses Dokument stammt aus dem ETH Web-Archiv und wird nicht mehr gepflegt !!!
!!! This document is stored in the ETH Web archive and is no longer maintained !!!