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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen |
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Ein Lob dem Müssiggang |
Von Katja Wirth Sprichwörter haben meistens recht. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans tatsächlich nicht mehr, und jeder ist sicher schon mal in die Grube gefallen, die er für andere sorgfältig gegraben hat. Ein Sprichwort wurde jedoch kürzlich durch eine wissenschaftliche Studie widerlegt: Not macht nicht erfinderisch! Die Studie, veröffentlicht in “Science”, zeigt, dass bei Orang Utans die materielle Not nicht mit Findigkeit korreliert. Entgegen den Erwartungen der Forscher probierten die untersuchten Orang-Utan-Stämme nicht neue Verhaltensweisen aus, um den Nahrungsmangel zu umgehen. Nun ja, wir Menschen sind zwar im Stammbaum ein paar Ästchen vom Orang-Utan entfernt - doch ich wage trotzdem zu behaupten, dass auch für die Spezies homo sapiens sapiens das gleiche zutrifft: Not, in materieller oder zeitlicher Hinsicht, wirkt sich nicht positiv auf den Erfindergeist aus, wie auch kürzlich in einer "Weltwoche"-Kolumne zu lesen war. Jeder, der unter Druck vergeblich nach der richtigen Idee gesucht und nachher beim Zähneputzen plötzlich einen Geistesblitz hatte oder mitten in der Nacht die Lösung des Problems glasklar vor sich sah, kann dies bestätigen. Gute geistige Leistungen brauchen Musse, oftmals auch Inputs von aussen und Austausch mit andern- und all das braucht Zeit. Gerade in der Forschung ist dies in besonderem Masse der Fall. Fleiss, Ausdauer und Fachwissen sind zwar notwendig, doch damit allein lässt sich bestenfalls mittelmässige, mechanische Forschung betreiben.
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Für Spitzenleistungen braucht es originelle Ideen und Kreativität – und dazu eben Zeit. Erstaunlich, dass dies der Homo sapiens academicus (offensichtlich auch die Unterart Homo sapiens academicus eth-ensis) noch nicht bemerkt hat! Ausgerechnet er erfindet den Zitationsindex und lebt unterwürfig nach diesem selbsterschaffenen Mass aller Dinge. Konstant setzt er sich dem Publikationsdruck aus und geht sich damit selbst in die Falle. Unzählige Professoren verlangen von ihren Mitarbeitern, dass sie sogar am Wochenende im Institut anwesend sind, und selber arbeiten sie rund um die Uhr. Dass aber lange Arbeitszeiten nichts mit Produktivität zu tun haben, zeigt eine britische Langzeitstudie. Phasen des Müssiggangs während des Arbeitstages wirkten sich nicht nur auf die Mitarbeiter positiv aus, sondern vor allem auf das Unternehmen. Firmen, die sich bisher dem Dauerstress verschrieben haben, richten Ruheräume für ihre Mitarbeiter ein - die “24/7/365-Culture” hat langsam ausgedient. Der Startenor Luciano Pavarotti hat gesagt, dass er mindestens eine Stunde am Tag brauche, in der er nur aufs Meer hinausschaue. Und der italienische Journalist Giuliano Ferrara preist den Müssiggang als “intelligente Kultivierung des Geistes”. Er spricht – verstehen wir uns richtig - nicht von Faulheit, sondern von der positiven Kraft der Musse! Italien ist übrigens auch das Entstehungsland der Vereinigungen “Slow Food” und “Slow City”, die einen Gegentrend zur Fast-Food-Gesellschaft setzen und unter anderem fordern, sich mehr Zeit zum Geniessen zu nehmen. Ob es sich für uns Homines sapienses academici eth-enses nicht lohnen würde, ab und zu einen tiefen Zug aus der Philosophie des Landes des Dolce far niente zu nehmen, statt ständig auf die Eliteuniversitäten der USA zu schielen? Der Forschung – wenn auch nicht dem Citation Index – würde es auf jeden Fall gut tun. Und uns wahrscheinlich auch. A propos: Haben Sie heute schon Kaffeepause gemacht? |
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Die ETH-Life-Kolumnisten äussern ihre persönliche Meinung. Sie muss nicht mit der Haltung der Redaktion übereinstimmen. | |||||||
Fussnoten:
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