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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 06.01.2003 06:00

Zweite Fallstudie Appenzell
Ein Kanton sucht seine Zukunft

Der Halbkanton Appenzell Ausserrhoden wird immer noch von traditionellen Branchen geprägt. Doch gerade diese Wirtschaftszweige sehen sich heute mit einem besonders schwierigen Umfeld konfrontiert. Im Rahmen einer Fallstudie untersuchen Forscher des Departements Umweltnaturwissenschaften nun, wie die Zukunft dieser Branchen aussehen könnte.

Von Felix Würsten

Bereits zum zweiten Mal sind sie nun im Appenzellerland unterwegs, die Studierenden von Roland Scholz, Professor für Umweltnatur- und Umweltsozialwissenschaften an der ETH Zürich. Die jungen Forscher arbeiten zur Zeit an ihrer zweiten Fallstudie im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Nachdem sie im letzten Wintersemester eine erste Studie zum Thema "Landschaftsnutzung für die Zukunft" verfasst haben, untersuchen sie nun unter dem Titel "Appenzell Ausserrhoden – Umwelt Wirtschaft Region" die Wirtschaftszweige Forstwirtschaft, Textilindustrie und Milchverarbeitung. (1) Die ETH-Wissenschaftler versuchen dabei, zusammen mit Vertretern aus dem Halbkanton, Zukunftsszenarien für diese Branchen zu entwickeln.

Keine rein akademische Übung

Dass es sich bei der Fallstudie nicht um irgend eine trockene akademische Übung handelt, zeigte sich gleich zu Beginn der Feldarbeit im November. Durch den Zusammenbruch der Firma "Swiss Dairy Food" wurde die gesamte schweizerische Milchwirtschaft in Aufregung versetzt. Auch im Appenzell wurde vieles, was bisher als sicher galt, plötzlich in Frage gestellt. Und es ist anzunehmen, dass in den nächsten Jahren noch einiges in Bewegung geraten wird. "Der Strukturwandel ist noch lange nicht abgeschlossen", ist Scholz überzeugt.

Tatsächlich kämpfen alle drei Branchen mit einem schwierigen Umfeld. 1955 gab es beispielsweise noch 29 Sägereibetriebe im Halbkanton. Heute sind es noch 11, und davon werden vermutlich höchstens 5 überleben. Auch bei der Milchverarbeitung hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges verändert. Mehr als die Hälfte der produzierten Milch wird heute ausserhalb des Kantons weiterverarbeitet.

Wirkungsgefüge sichtbar machen

Die Kernfrage der zweiten Fallstudie liegt daher auf der Hand: Was muss gegeben sein, damit die ausgewählten Branchen in 20 Jahren im Untersuchungsgebiet noch existieren können? Um darauf eine Antwort zu finden, sind mehrere Dutzend Studierende während insgesamt 14 Wochen im Appenzellerland unterwegs. Das ist ein beachtlicher Aufwand, und so erstaunt es denn auch nicht, dass das Team von Scholz am Anfang immer wieder Überzeugungsarbeit leisten musste, wenn es eine Firma zur Mitarbeit bewegen wollte. "Keine Zeit" war häufig die erste spontane Reaktion. Fast alle liessen sich dann aber doch überzeugen, dass es gerade in unsicheren Zeiten wichtig ist, zwischendurch ruhig und nüchtern über die Zukunft nachzudenken. "Die Fallstudie möchte das Wirkungsgefüge im Halbkanton sichtbar machen und aufzeigen, welche Handlungsoptionen den Akteuren offen stehen", erklärt Scholz.

Roland Scholz (rechts) und Cornelis Kooijman informieren sich vor Ort in der Scherlerei Tanner AG in Speicher. Foto: Andreas Hofer gross


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Die Sägerei Schwizer in Urnäsch ist einer der Betriebe, die bei der ETH-UNS Fallstudie 2002 mitmachen. Foto: Henry Wöhrnschimmel gross

Offenheit auf beiden Seiten

In der Regel stossen die ETH-Leute im Appenzellerland auf offene Türen, wie Fredy Stricker, Landwirt und Gemeinderat in Stein beteuert. "Selbst konservative Kreise sind heute bereit, am transdisziplinären Forschungsprojekt mitzuarbeiten." Stricker war anfänglich auch skeptisch gegenüber der Fallstudie eingestellt. Heute berichtet er euphorisch von seinen Erfahrungen mit den Akademikern aus Zürich. "Die Art und Weise, wie die ETH-Leute den Dialog mit uns suchen, überzeugt mich." Doch auch die Appenzeller tragen ihren Beitrag zum Erfolg der Studie bei. "Damit eine solche Arbeit gelingt, müssen beide Seiten bereit sein, sich auf andere Denkweisen einzulassen", meint Stricker.

Trotz der guten Resonanz warnt Scholz jedoch vor allzu hohen Erwartungen. "Viele haben anfänglich falsche Vorstellungen von einer Fallstudie. Sie erwarten sofortige Resultate und sind dann ernüchtert, wenn wir keine pfannenfertigen Lösungen präsentieren können. Eine Fallstudie ist längerfristig ausgerichtet und möchte in erster Linie Denkanstösse und Orientierungshilfen für nachhaltiges Handeln liefern." Gerade darin sieht Stricker auch die Stärke von solchen Studien. "Wichtig ist vor allem, wie die Diskussion geführt wird", meint er. "Akademisch vorgebrachte Ideen stossen bei den Betroffenen an der Basis nämlich nur auf Unverständnis und werden kaum umgesetzt."

Resultate wurden nicht Volkswissen

Genau das versucht Scholz möglichst zu vermeiden. Für ihn ist es wichtig, dass die Fallstudien einen starken Praxisbezug aufweisen und dass auf allen Ebenen lokale Akteure einbezogen werden. So ist etwa der Appenzeller Landammann Hans Altherr Co-Leiter der Studie, und verschiedene Fachleute aus der Region stehen den Studierenden als Berater zur Seite. Ein Anliegen von Scholz ist auch, dass die Resultate in der breiten Bevölkerung zur Kenntnis genommen werden. In dieser Hinsicht ist er mit der ersten Studie nicht ganz zufrieden. "Die Wirkung beschränkte sich noch zu stark auf die strategische Ebene", meint er selbstkritisch. "Die Resultate wurden jedoch nicht zu Volkswissen." Beim zweiten Mal möchten Scholz und die Beteiligten des Kantons dies nun besser machen. Das Fallstudienteam wird nun in den Gemeinden lokale Arbeitsgruppen unterstützen, die sich mit den Ergebnissen der Fallstudie beschäftigen.

Dass die Studierenden zu Beginn einer Fallstudie oft idealistische oder gar naive Vorstellungen haben, ist Scholz bewusst. Doch die jungen Forscher lernen schnell. "Viele Fachleute sind überrascht, wie rasch die Nachwuchsakademiker mit der Thematik vertraut sind." Damit die Einarbeitung möglichst zügig vonstatten geht, verlangt Scholz von seinen Mitarbeitern ein solides methodisches Grundwissen. Wer als Studierender an einer Fallstudie teilnehmen möchte, muss daher zuerst eine Prüfung ablegen.

Konkurrenten am gleichen Tisch

Auch den Appenzellern wird einiges abverlangt, werden doch mitunter sehr heikle Themen angesprochen. So warfen die ETH-Leute bei der letzten Fallstudie etwa die schon fast ketzerisch anmutende Frage auf, ob denn in gewissen Fällen nicht ein Rückbau von Gebäuden angezeigt wäre. Auch die zweite Fallstudie zwingt einige im Kanton, ihre Positionen kritisch zu überdenken. Die Vertreter der Textilfirmen etwa taten sich anfänglich schwer mit der Vorstellung, zusammen an einer Fallstudie zu arbeiten. Die äusserst misstrauischen Konkurrenten sahen sich plötzlich an einem Tisch vereint und mussten zusammen über Zukunftsszenarien diskutieren. "Der Dialog verlief anfänglich recht harzig", berichtet Scholz. Doch mit der Zeit merkten die Firmenvertreter, dass sie in gewissen Bereichen nicht nur punktuell, sondern auch strategisch zusammenarbeiten könnten. Scholz ist überzeugt: "Wenn es ihnen gelingt, ihre althergebrachten Animositäten zu überwinden, können sie ihre Position auf dem hart umkämpften Markt verbessern."


Fussnoten:
(1) Webseite der Fallstudien: www.fallstudie.ethz.ch



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