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Rubrik: Tagesberichte |
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Vorsorgeprinzip und Risikomanagement Einheitliche Sprache |
Das Vorsorgeprinzip spielt im Umweltschutzgesetz eine entscheidende Rolle. In den letzten Jahren wurde es vor allem im Zusammenhang mit Elektrosmog und Gentechnik heftig diskutiert: das Vorsorgeprinzip als Teil der Risikodebatte. Das Thema haben drei Tagungen aufgenommen und es aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Von Michael Breu Der Artikel 1 des Schweizer Umweltschutzgesetzes (USG) liest sich wie die Präambel der Bundesverfassung: Feierlich wird darin verkündet, dass Menschen, Tiere und Pflanzen, ihre Lebensgemeinschaften und Lebensräume geschützt werden müssen. „Im Sinne der Vorsorge sind Einwirkungen, die schädlich oder lästig werden könnten, frühzeitig zu begrenzen“, heisst es weiter. „Dem Vorsorgeprinzip kommt im USG eine herausragende Bedeutung zu“, sagt Alain Griffel, Dozent für Rechtswissenschaft an Universität und ETH Zürich. „Ohne Prävention wäre echter Umweltschutz nicht möglich.“ Das Vorsorgeprinzip sei heute ein „Grundsatz mit Verfassungsrang“ – denn auch in der neuen Bundesverfassung habe es in Artikel 74 Absatz 2 seinen Niederschlag gefunden. Das Vorsorgeprinzip wird in der Juristerei seit Anfang der 1980er-Jahre als „soft law“ angewendet. Erst nach dem Umweltgipfel von Rio de Janeiro vor zwölf Jahren wurde das Prinzip in den Gesetzesbüchern der meisten Länder konkretisiert. Dem stimmen allerdings nicht alle Juristen zu, insbesondere Pierre Tschannen, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Bern, kritisiert, dass die Definition des Vorsorgeprinzips zu wenig konkret sei. An einer Tagung der Zürcher Hochschule Winterthur (1) diskutierten Experten über Vor- und Nachteile des Vorsorgeprinzips. "Unmittelbar anwendbare Rechtsnorm" „Das Vorsorgeprinzip weist – wie das Nachhaltigkeitsprinzip – einen programmatischen Teilgehalt auf. Anders als das Nachhaltigkeitsprinzip ist es aber auch eine justiziable, das heisst unmittelbar anwendbare Rechtsnorm“, sagt Alain Griffel. In der Vergangenheit habe das Vorsorgeprinzip „zahlreiche gesetzliche Konkretisierungen erfahren“ – etwa die Umweltverträglichkeitsprüfung, den Immissionsschutz oder den Katastrophenschutz. „Wer Anlagen betreibt oder betreiben will, die bei ausserordentlichen Ereignissen den Menschen oder seine natürliche Umwelt schwer schädigen können, trifft die zum Schutz der Bevölkerung und der Umwelt notwendigen Massnahmen“, zitiert Ernst Berger, ETH-Bauingenieur und heutiger Leiter Sicherheitstechnik am Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft, aus dem Umweltschutzgesetz (Art.10, Abs.1 USG). Doch die absolute Sicherheit könne auch bei technischen Anlagen nicht erreicht werden.
Eine wesentliche Weiterentwicklung des Vorsorgeprinzips sieht Berger in der Störfallverordnung, die der Bundesrat nach dem verheerenden Chemielager-Brand bei Sandoz in Schweizerhalle ausarbeiten liess. „Der Geltungsbereich der Störfallverordnung umfasst Betriebe, in denen chemische und biologische Gefahrenpotentiale vorhanden sind, sowie Verkehrswege, auf denen gefährliche Güter transportiert werden“, erklärt Berger. „Die behördliche Kontrolle basiert auf dem ‚Sowohl-als-auch-Prinzip’. Das heisst, bei den Anlagen muss der Stand der Sicherheitstechnik erfüllt sein, und das von diesen Anlagen ausgehende Risiko für Bevölkerung und Umwelt muss tragbar sein.“
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Doch was ist ein tragbares Risiko? „Der Begriff des Vorsorgeprinzips ist vor etwa zwanzig Jahren von der Umweltdebatte in die Ethik eingeflossen“, sagt Klaus Peter Rippe, Sozialethiker, Uni Zürich-Dozent und seit November 2002 ad interim-Präsident der Eidgenössischen Ethikkommission für Gentechnik im ausserhumanen Bereich. „Die Ethik verwendet den Begriff im Zusammenhang mit 'Schaden’ und 'Sicherheit’.“ Rippe unterscheidet in ein schwaches und ein starkes Vorsorgeprinzip: „Das starke Vorsorgeprinzip hebt sich durch drei Punkte hervor: die Forderung einer Umkehr der Beweislast; die Forderung, nicht allein Wissen, sondern auch Wissenslücken in die politische Entscheidfindung einzubeziehen; und die Forderung, im Zweifelsfall mögliche Handlungen zu unterlassen. Das schwache Prinzip hingegen verlangt einzig Vorsichtsmassnahmen, welche Risiken minimieren.“ Wie ein Risiko nun gewichtet wird, sei Ansichtssache. Dass daraus Konflikte entstünden, werde an der aktuellen Debatte um die Gentechnik im ausserhumanen Bereich deutlich. Klaus Peter Rippe findet: „In Situationen der Unsicherheit können prima facie Gründe ausreichen, kostenträchtige Vorsorgemassnahmen zu legitimieren. Drohen in einem Produktbereich oder bei einer Technik schwerwiegende und irreversible Schäden, kann dies auch eine Umkehr der Beweislast erfordern.“ Hohe Ungewissheit Ortwin Renn, Professor für Technik- und Umweltsoziologie an der Universität Stuttgart und ehemaliger ETH-Gastprofessor, relativiert: „Das Prinzip der Vorsorge ist dann angesagt, wenn hohe Ungewissheit bei der Risikoabschätzung vorliegt.“ Dabei müsse prinzipiell zwischen Unwissenheit und Ungewissheit unterschieden werden. „Unsicherheit führt dazu, dass man mit einer Schwankungsbreite des Eintretens von Wirkungen rechnet. Unwissenheit führt zur Nichtbeachtung möglicher, aber noch nicht erkannter Handlungsfolgen.“ Dem will Ulrich Müller-Herold, ETH-Professor für Umwelt und Risikovorsorge, entgegenwirken. Zusammen mit Ortwin Renn hat er ein quantitativ messbares Filtersystem entwickelt, mit dem Chemikalien im Hinblick auf globale Gefährdungsszenarios untersucht werden können. "Späte Lehren aus frühen Warnungen" Damit folgten sie (unbewusst) dem Grundsatz von Christian Kirchsteiner, Risikospezialist der Europäischen Kommission, und Poul Harremoës, Professor an der Technischen Universität Lyngby in Dänemark. „Jede Information hat einen deutlich positiven Effekt auf das Eintreten eines Risikos“, sagt der Physiker Kirchsteiner – mit Vor- und Nachteilen. Die Länder der Europäischen Union strebten deshalb eine einheitliche Risikosprache an. Umweltingenieur Harremoës stimmt zu, bleibt aber skeptisch. Aus gutem Grund: Erst kürzlich zeigte er in einem viel beachteten Buch (2) auf, wie oft Politiker falsche Entscheide fällten, weil sie die Risikoanalyse nicht verstanden oder verstehen wollten: Einerseits zogen sie „späte Lehren aus frühen Warnungen“, andererseits überinterpretierten sie Statistiken und schürten dort Panik wo es keiner bedurfte. „Das Vorsorgeprinzip ist ein Thema, das in der Gesellschaft und auch in der Medienberichterstattung zunehmend an Bedeutung gewinnt“, findet Heinrich Kuhn, Professor am Kompetenzzentrum für Sicherheit und Risikoprävention der Zürcher Hochschule Winterthur und Veranstalter der Tagung.
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