|
Rubrik: Mittwochs-Kolumnen |
Print-Version
|
Vom Umgang mit der geschriebenen Wissenschaft Pisa liegt in Oberitalien |
Von Paul Schmid-Hempel Pisa liegt weit weg von der Schweiz. Das wenigstens könnte man meinen, wenn man die hiesigen Reaktionen auf die gleichnamige europäische Bildungsstudie betrachtet. Nebst den glänzenden Resultaten in der Mathematik, haben sich die Schweizer Schüler auch durch eine ausgeprägte Leseschwäche geoutet. Die Schweiz - ein Volk von kalkulierenden Jungunternehmern, das keine zusammenhängende Texte lesen mag? Das wenigstens würde dazu passen, dass wir uns momentan vor allem Sorgen um unsere Wirtschaft machen, aber wenig Sorgen um unsere Gesellschaft. Nun könnte man einwenden, dass die Studie sich auf die Schulen, aber nicht auf die Hochschulen bezieht. Alles bestens also? Auch wenn unseren Hochschulen insgesamt ein gutes Zeugnis auszustellen ist, nichts wäre fataler, als sich auf Lorbeeren auszuruhen. Und wenn wir schon die Wirtschaftsbrille zur Weitsicht benützen - die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht. Der Umgang mit der geschriebenen Wissenschaft, die in Form von Fachpublikationen und Fachbüchern vorliegt, ist nämlich auch an unseren Hochschulen nicht ganz unproblematisch. Vor einiger Zeit fragte ich zum Beispiel in einem Schlussdiplomkurs, wer - ausser den vorgeschriebenen Lehrbüchern - in seinem Studium sonst noch ein Fachbuch gelesen hat. Antwort: niemand. Auch wenn man sich vor Pauschalisierungen und Glorifizierungen gleichermassen hüten soll, stimmt mich dieser (zugegebenermassen einzelne) Befund nachdenklich. Es entgeht einem Betrachter auch nicht, dass Studenten aus angelsächsischen oder skandinavischen Ländern einen viel selbstverständlicheren Umgang mit der geschriebenen Wissenschaft haben. Woran liegt dies?
|
Wie so oft, gibt es keine einfachen Antworten. Einerseits kann man der ETH gratulieren, dass sie versucht, die Stundenpläne so zu entrümpeln, dass für die Studierenden auch enstprechende Zeit für selbständiges Arbeiten und damit für selbständiges Lesen bleibt und dies zudem über Kreditleistungen abgefragt wird. Aber es könnte auch über die Skript-Kultur nachgedacht werden, die orginal zu Lesendes durch Vorgedachtes ersetzt. Hierzulande wird auch manchmal liebevoll das Bild gepflegt, dass originale Literatur unverständlich, schlecht geschrieben, elitär und deshalb zu vermeiden sei. In Wahrheit sind die orginalen Gedankengänge oft äusserst faszinierend und sollten nicht nur für spätere Wissenschaftshistoriker interessant sein. An vielen angelsächsischen Universitäten bildet zudem die Bibliothek und der grosse Lesesaal das Herzstück des Campus. Leider hat die Hauptbibliothek der ETH (aus durchaus verständlichen und respektablen Gründen) keine solche Kultur des Lesesaals anzubieten. Man darf sicherlich die Verhältnisse andernorts nicht ungeprüft auf die Schweiz übertragen. Es sind denn auch eher Einzelteile, die zusammen ein Phänomen ergeben. Und: Hand aufs Herz, werte Mit-Dozenten, auch wir sind nicht nur verklärte Leser. Zunehmend stehen wir im täglichen Kampf um einige Minuten der kreativen Lücke, die nicht von Terminen und sachfremden Aufgaben belegt sind. Zudem haben diese Lücken oft den Ruch des Müssiggangs, dabei sind sie geradezu essentiell für die kreative akademische Arbeit, welche auch den Studenten vermittelt werden soll. Auch wenn es geographisch stimmt - Pisa liegt in Oberitalien, aber wir tun gut daran, im Umgang mit der geschriebenen Wissenschaft den Turm nicht allzu schief werden zu lassen. |
||||||
Sie können zu diesem Artikel ein Feedback schreiben oder die bisherigen lesen. |