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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 13.09.2006 06:00

Wendepunkt 9/11

Andreas Wenger

In den letzten Tagen haben uns die Medien die bereits fünf Jahre zurück liegenden Terrorattacken auf New York und Washington in Erinnerung gerufen. Viel wurde dabei auch über die gemischte Bilanz der Terrorbekämpfung geschrieben. (1) In Afghanistan wurde al-Kaida zwar als hierarchisch gegliedertes Terrornetzwerk mit einer professionellen Kommando- und Ausbildungsinfrastruktur zerschlagen. Der darauf folgende Krieg im Irak hat dagegen viel zum Überleben des von Bin Laden so bezeichneten Konzepts eines „defensiven Dschihads“ beigetragen: Der Irak bildet heute für islamistische Terrornetzwerke das wohl wichtigste Rekrutierungsfeld

Was soll der Westen tun? In Washington wird man zur Einsicht kommen müssen, dass ein schwergewichtig militärisches Vorgehen gegen eine zunehmend politisch-ideologische Bedrohung auf lange Sicht kaum zu rechtfertigen ist, geschweige denn zu gewinnen. Europa wiederum – dies haben die Anschläge von Madrid und London deutlich gemacht – wird mit den Risiken leben lernen müssen, die von zunehmend dezentral operierenden Gruppierungen ausgehen. Das gilt auch für die Schweiz.

Die tiefsten Spuren aber hat der 11. September 2001 im Nahen und Mittleren Osten hinterlassen. Die mit Abstand meisten Terroranschläge wurden nicht im Westen, sondern in dieser Region und im indischen Subkontinent verübt. Drei Beobachtungen, die ich an einer Konferenz unter Nahost-Experten kürzlich hier an der ETH machte, scheinen mir in diesem Zusammenhang erwähnenswert. (2)Erstens hat sich das regionale Kräfteverhältnis markant verändert. Die Militärinterventionen der USA haben zum Fall des sunnitischen Talibanregimes in Afghanistan und des sunnitischen Baathregimes im Irak geführt. Iran und die schiitischen Kräfte in der Region haben damit an regionaler Bedeutung gewonnen – ein nicht beabsichtigter Nebeneffekt der amerikanischen Aussenpolitik.

Die US-Nahostpolitik wiederum wurde zunehmend zur Gefangenen des „Krieges gegen den Terrorismus“. Dass diese regionalen Kräfteverschiebungen globale Rückwirkungen haben, zeigt sich nun beispielsweise in der unnachgiebigen Haltung Teherans im Streit um das iranische Atomprogramm. Die Iraner gehen davon aus, dass die USA den Irak nur noch mit ihrer Hilfe stabilisieren können und arbeiten deshalb mit wachsendem Selbstvertrauen auf eine regionale Führungsrolle im Persischen Golf hin.

Das Vorgehen der USA im Irak und Israels im Libanon offenbarte zweitens ähnliche Mängel: Von politischem Wunschdenken geprägte Interventionskonzepte; übermässiges Vertrauen in nachrichtendienstliche Erkenntnisse; Trennung der militärischen von den politischen Aspekten des Problems; übertriebene Erwartungen an die Luftkriegsführung gefolgt von Bodenoperationen mit zu kleinen Truppenverbänden; Internationalisierung der Konfliktlösungsbemühungen erst wenn der unilaterale Weg blockiert ist. Aus diesem Muster lässt sich ableiten, wie bei der Formulierung der westlichen Iranpolitik besser nicht vorgegangen werden sollte.

Aus Sicht vieler Europäer ist an diesem Modell drittens besonders stossend, dass ein selbstsicheres, militaristisches und interventionistisches Amerika die internationale Agenda bestimmt, dabei aber zunehmend den Weg des internationalen Rechts und der Uno meidet. Der Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass die Rollen der USA und Europas im Nahen Osten vor einem halben Jahrhundert noch genau umgekehrt waren.


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Andreas Wenger, ETH-Professor für schweizerische und internationale Sicherheitspolitik und Leiter des Center for Security Studies an der ETH.

Heute sind die USA aufgrund der Grösse des militärischen, wirtschaftlichen und politischen Fussabdruckes wohl oder übel die unverzichtbare Ordnungsmacht der Region. Ich meine aber, dass diplomatische Lösungen der Krisen im Golf und in Palästina zunehmend zweierlei voraussetzen: die Abstimmung der Positionen mit den Europäern sowie mit Russland und China und den direkten Einbezug Irans und Syriens. Denn auch das zeigt die lange Konfliktgeschichte dieser Region: Tragfähige Lösungen sind nur dann möglich, wenn nicht allein Machtdenken die Agenda bestimmt. Es ist auch Aufgabe der Wissenschaft, darauf immer wieder hinzuweisen.


Andreas Wenger

Sein Forschungsgebiet bewegt die Welt – heute mehr denn je. Andreas Wenger beschäftigen die Sicherheit und die politischen Institutionen und Prozesse, die dazu führen sollen. Und die Konflikte, die zeigen, dass Sicherheit immer ein gefährdetes Gut ist. Als ETH-Professor für schweizerische und internationale Sicherheitspolitik leitet Andreas Wenger das Center for Security Studies (CSS). Mit über 60 Mitarbeitenden ist es eines der grossen Zentren der ETH und weit über Uni und ETH hinaus vernetzt. So betreibt es im Auftrag des Bundes und in Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Partnern das International Relations and Security Network (ISN), eine elektronische Netzwerkinitiative, die den sicherheitspolitischen Forschungsdialog fördert.

Bei längeren Forschungsaufenthalten in Yale, Princeton und kürzlich wieder in Washington hat sich Wenger vertieft mit aktuellen Fragen der internationalen Sicherheitspolitik auseinandergesetzt. Schwerpunkte seiner Forschung sind die transatlantischen Beziehungen sowie die amerikanische und russische Aussen- und Sicherheitspolitik. Dazu kommt die europäische Sicherheitsarchitektur sowie die Aussen- und Sicherheitspolitik der Schweiz. In Schweizer Medien ordnet er als Experte regelmässig Ereignisse fürs grosse Publikum in die sicherheitspolitische Landschaft ein – eine Aufgabe, die er nicht nur gern übernimmt, sondern auch als selbstverständlichen Bestandteil seines Jobs ansieht: „Unser Wissen und Know-how soll nicht aufs Akademische beschränkt bleiben. Es in die politischen Prozesse einfliessen zu lassen und der Bevölkerung zu vermitteln, ist Reiz und Herausforderung zugleich.“




Literaturhinweise:
Die Kolumnen von "ETH Life" finden Sie jeweils mittwochs unter: www.ethlife.ethz.ch/articles/kolumne/

Fussnoten:
(1) Siehe dazu den von Andreas Wenger und Doron Zimmermann herausgegebenen Band: www.rienner.com/viewbook.cfm?BOOKID=1575&search=wenger
(2) Wie und warum haben sich die Bedrohungsperzeptionen, Interessen und Rollen der Europäer und der USA im Nahen und Mittleren Osten seit 1945 verändert? Warum führen Ereignisse in dieser Region immer wieder zu schweren transatlantischen Zerwürfnissen? Solchen Fragen widmete sich die von der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik organisierte internationale Konferenz A Strained Partnership: European-American Relations and the Middle East from Suez to Iraq, die vom 7. bis 9. September 2006 an der ETH stattfand. Siehe das Konferenzprogramm unter: www.isn.ethz.ch/php/conferences/PreviousEvents/2006_Zurich_Conference.htm



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