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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen |
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Vorbereitungen |
Kurt R. Spillmann Jeder Student, jede Studentin ist mit dieser Frage konfrontiert: Wie bereite ich meinen Studienabschluss optimal vor? Wann muss ich mit den Prüfungsvorbereitungen beginnen? Die Antworten auf diese Fragen variieren je nach Fach, nach Stoffumfang, nach Vorwissen, nach Begabung, nach Konzentrationsfähigkeit. Normalerweise wird die Vorbereitungszeit nach Wochen oder Monaten berechnet. Aber nach Jahren? Dabei könnte man ja das ganze Studium als Vorbereitung auf den Abschluss betrachten und betreiben. Oder besser: den Abschluss mit seinen Prüfungen nicht als Ende betrachten, sondern als Anfang, als Beginn selbstverantwortlicher Berufstätigkeit und als Übergang zu einem lebenslangen unbegleiteten Lernprozess, und entsprechend auch studieren. „Non vitae, sed scholae discimus“, hat sich Seneca schon vor 2000 Jahren polemisch beklagt, und damit gemeint, dass wir doch eigentlich für das Leben und nicht für die Schule lernen sollten. Für das Leben lernen! Was heisst das? Was verlangt denn das Leben? Seneca meinte, es brauche wenig Wissenschaft für eine sittliche Haltung, und darum gehe es: sittlich gut zu sein, und nicht gelehrt. Eine solche Entweder-Oder-Position würde heute niemand mehr beziehen wollen. Unsere Wunschvorstellung von einer gelungenen Ausbildung verbindet hohe wissenschaftliche Kompetenz mit dem Bild einer gereiften Persönlichkeit mit ethischen Grundwerten. Wissenschaftliche Kompetenz wird durch die universitäre Ausbildung vermittelt. Wissenschaftliche Kompetenz kann als Leistung gemessen werden. Aber eine reife Persönlichkeit? Ethik? Wie wollte man sie prüfen oder messen? Die Welt der ethischen und menschlichen Werte ist ganz offensichtlich anders strukturiert als die Welt der abfragbaren wissenschaftlichen Werte. Es gibt kein Messen und kein Zählen, keine schlüssigen Versuchsresultate, kein abschliessendes Richtig oder Falsch. Und doch sind solche Werte im Berufsleben, in Familie und Staat von grundlegender Bedeutung. Aber wo lernen wir die zwischenmenschlichen Grundwerte der Rücksichtnahme, der Solidarität, der Toleranz, der Kompromissbereitschaft, der Achtung vor dem Nächsten, die uns erst zu freiheitlichem und demokratischem Zusammenleben befähigen und auf die eine funktionierende Gesellschaft nicht verzichten kann? Diese Grundlagen werden in der Kindheit gelegt. Die Familie ist der erste soziale Verband von grosser Prägekraft. Darüber hinaus weisen neuere sozial- und entwicklungspsychologische Erkenntnisse darauf hin, dass die Kinder zwischen zwei und drei Jahren alle gleichermassen in eigens dafür geschaffenen Institutionen – Krippen, Kindergärten, Horten, Tagesschulen - gefördert werden müssen, wenn man in einer Gesellschaft die vorhandenen Begabungen tatsächlich entwickeln und Chancengleichheit verwirklichen will. Dafür ist reichlich gut ausgebildetes und gut entlöhntes Personal erforderlich, denn zwischen drei und sechs Jahren werden auch die Grundlagen für das Lernverhalten gelegt, und nicht erst in der Grund-, Mittel- oder Hochschule.
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In jenen frühen Jahren beginnt die Vorbereitung auf das soziale, auf das politische und sogar auf das wissenschaftliche Leben. Dort wird die nächste Generation der Unterprivilegierten befähigt, der generationenübergreifenden Armutsfalle zu entgehen. Dort kann die kulturelle und sprachliche Einbindung von Kindern anderer Kulturen eingeübt werden. Durch solche Einrichtungen wird auch die Chancenungleichheit von Mann und Frau in der beruflichen Entfaltung vermindert, indem Frauen nicht mehr jahrelang ausschliesslich von ihrer Fürsorgearbeit für die eigenen Kinder absorbiert werden, wie es eine an Gotthelf angelehnte Romantik des ewig im Hause präsenten Müeti immer noch will. Wir müssen uns nicht nur auf akademische Prüfungen vorbereiten. Auch das soziale, das politische Leben stellt uns ständig vor neue, immer komplexer werdende Aufgaben. Um uns als Gesellschaft darauf vorzubereiten, reichen ein paar Wochen oder Monate nicht. Wir müssen damit in der frühen Kindheit beginnen und bereit sein, die dafür notwendigen Einrichtungen bereitzustellen. Oder wie Henry Ford I. sagte: „Die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes beginnt nicht in der Fabrikhalle oder im Forschungslabor, sie beginnt im Klassenzimmer.“
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