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Publiziert: 07.01.2004 06:00

Im Zentrum der Mensch? – „Wissenschaft kontrovers“ zum Vierten
„Medikamente sind nicht schlecht“

Psychopharmaka: Ja oder Nein? Um diese Frage drehte sich am Montagabend die Diskussion im Auditorium maximum der ETH. Eingeladen zum vierten Talk von „Wissenschaft kontrovers“ hatte das Collegium Helveticum; es kamen rund 150 Personen, mehrheitlich Männer im älteren Semester. Titel der Veranstaltung: „Selbstverortung der Wissenschaften, ermittelt am Beispiel der Kontroverse um die Pharmakotherapie in der Psychiatrie“.

Von Michael Breu

Kontrovers ist das Thema! Wenn es um die Verordnung von Psychopharmaka geht oder um andere Praktiken der Psychiatrie, dann prallen Meinungen aufeinander. Linke fühlen sich, wie die Zürcher SP-Regierungsrätin und Bildungsdirektorin Regine Aeppli an der vierten Talkrunde von „Wissenschaft kontrovers“ ausführte, an die Ruhigstellung von Frauen und Männern erinnert, die der Gesellschaft unbequem sind. Das Kino hat es ausführlich dargestellt – etwa Elektroschocks und die Lobotomie in Milos Formans „Einer flog über das Kuckucksnest“, der Einsatz von Wahrheitsdrogen in Agentenfilmen oder an die „geheimen Drogenversuche der CIA“, über die Egmund R. Koch und Michael Wech kürzlich im ARD-Beitrag „Deckname Artischocke“ berichteten. Heute würden „verhaltensoriginelle“ Kinder und Jugendliche mit Hilfe von „Ritalin“ behandelt – aus dem Zappelphilipp wird das nette Mädchen, der nette Knabe von nebenan. „Medikamente an sich sind nicht schlecht“, meinte Regine Aeppli, doch über die konkrete Anwendung müsse man sich im Klaren sein. „Die Eltern und die Schulen müssen ihre Verantwortung wahrnehmen.“

"Die Eltern und die Schulen müssen ihre Verantwortung übernehmen", findet die Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli. gross

Die Psychiatrie und ihre Mittel würden sich selbst gefährden, wenn Eindimensionalität und Masslosigkeit vorherrschten, meinte am Diskussionsabend Daniel Hell, Professor für klinische Psychiatrie an der Universität Zürich und ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Wo Psychopharmaka verabreicht würden, müsse die Therapie immer begleitet werden. Ebenso seien biographische und kulturelle Werte der behandelten Person ins

Daniel Hell (rechts): Seine Dissertation hat der Psychiatrieprofessor über Cannabis-Konsum geschrieben. Heute befasst er sich mit Psychopharmaka. gross


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Ritalin: "Verhaltensoriginelle" Kinder werden mit diesem Medikament behandelt. Bild: Novartis gross

Therapiekonzept einzubeziehen: „Die Psychiatrie tut gut daran, sich nicht alleine auf biologisch-medizinische Aspekte zu beschränken“, sagte Daniel Hell.

In eine ähnliche Richtung zielten die Argumente von Hanns Möhler, Professor für Pharmakologie der ETH und Universität Zürich: „Im Zentrum muss der Mensch stehen. Wenn nur zappelige Kinder als störend bezeichnet werden, dann haben wir Fehler gemacht – und nicht die Pharmakotherapie.“ Möhler plädierte deshalb, dass Patienten ihren „Lebensweg nicht an die Medikamente abgeben“ sollen.

"Alles ein Mind-Body-Problem?": Die Historikerin Barbara Orland blickt weit in die Philosophiegeschichte zurück. gross

So vielfältig die Meinungen waren, eine Kontroverse – harte Gegenpositionen also – wollte sich nach den Voten von Regine Aeppli, Daniel Hell und Hanns Möhler nicht ergeben, zu viele Gemeinsamkeiten steckten in den einzelnen Ausführungen. Daran änderte auch Barbara Orland, Oberassistentin am ETH-Institut für Geschichte, nichts, die den historischen Bogen aufspannte, die Pharmakotherapie aus philosophischer Sicht beleuchtete und kritisierte, dass sich die aktuelle Forschung einseitig an neurowissenschaftlichen Erkenntnissen orientiere. Weshalb die Wissenschaft der Psychopharmaka heute von der Neurobiologie dominiert wird, beantwortete die Historikerin nicht.

Mehr Dynamik in die Diskussion kam erst nach der halbstündigen „Think-and-Drink“-Pause und dem Zwischenruf von Georg Schönbächler vom ETH-Institut für Pharmazeutische Wissenschaften. Aus dem Publikum meldeten sich zwei ehemalige, langjährige Psychiatriepatienten zu Wort. Die Universitäten befassten sich nur mit Leiden und Störungen, hiess es in der einen Kritik, in der anderen, dass Medikamente in sehr hohen Dosen verabreicht würden ohne dass sich die behandelnden Psychiater Gedanken über mögliche Spätfolgen stellten. Gleich mehrere Anwesende widersprachen und fanden, dass eine medikamentöse Therapie immer von einem Arzt initiiert und begleitet werde, ältere Medikamente zudem durch moderne, zielgerichtete ersetzt worden seien. „Wir steuern auf eine Katastrophe zu: Der Streit führt zur Ideologisierung“, meinte ein Zuhörer und versuchte, die Diskussion wieder auf das Thema zurückzuführen, der „Selbstverortung der Wissenschaften, ermittelt am Beispiel der Kontroverse um die Pharmakotherapie“.


Literaturhinweise:
Website zur Veranstaltungsreihe „Wissenschaft kontrovers“ mit Forum: www.kontrovers.ethz.ch/
„Das biochemische Skalpell - Psychiatrie ohne Seele“ in Meridian Newsletter Nr. 13 / Herbst 2003: www.kontrovers.ethz.ch/artikel/renninger_text.htm



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