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Publiziert: 06.10.2004 06:00

ZHW-Jahrestagung zu Risiko- und Sicherheitsmanagement
Der Faktor Mensch

Der Mensch ist ein Risikofaktor. Kommt es zu einem Grossunfall, ist meist der Faktor Mensch eine der Ursachen, die zur Katastrophe führte. Wie soll man nun damit umgehen? Das war Thema einer Tagung an der Zürcher Hochschule Winterthur.

Von Michael Breu

Sicherheit wollen alle; sine cura, ein Zustand, in dem ich mir keine Sorgen machen muss. „Doch die hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht und kann es nicht geben“, sagt Heinrich Kuhn, Leiter des Kompetenzzentrums für Sicherheit und Risikoprävention (1) der Zürcher Hochschule Winterthur (ZHW), und Martin V. Künzli, Mitglied der Schulleitung der ZHW, bringt es auf den Punkt, wenn er Klaus Dörners Bestseller zitiert: „Irren ist menschlich“.

Mensch in 11 von 22 Fällen verantwortlich

Irren kann fatale Folgen haben. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor 18 Jahren ist im Wesentlichen auf den Faktor Mensch zurückzuführen. Das gleiche gilt für den Columbia-Unfall vor einem Jahr oder für den Flugzeugabsturz in Überlingen vor zwei Jahren. „Wenn der Faktor Mensch im Spiel ist, kann es zu heiklen Situationen kommen“, meinte den auch Ernst G. Zirngast vom Rückversicherer SwissRe an der Tagung „Human Factor. Herausforderungen und Chancen für das Risiko- und Sicherheitsmanagement“, die kürzlich in Winterthur stattfand. Zirngast hat Zahlen für den Bereich Petrochemie aufgearbeitet: „Wir haben 22 Grossschäden über zehn Jahre mit einer Sachschadenssumme von 3.3 Milliarden US-Dollar in der Erdöl verarbeitenden Industrie untersucht. In 11 Fällen spielte der Faktor Mensch eine entscheidende Rolle für die Eskalation des Ereignisses zum Grossschaden.“ Da nützt es auch wenig, wenn Schutzschilde eingebaut werden, welche die Ausbreitung des Schadens verhindern sollten: „Die 22 Ereignisse durchbrachen 79 Schutzschilde, welche latente Fehler zeigten. 20 Ereignisse davon waren direkt durch den Faktor Mensch verursacht.“

Regeln strikt befolgen

Zusammen mit dem Institut für Arbeitspsychologie der ETH Zürich hat SwissRe deshalb in den 1990er-Jahren ein Konzept ausgearbeitet, das die Einflüsse des Menschen untersuchte und Rückschlüsse auf die Sicherheitskultur erlaubte. „Ein Kernproblem von Arbeitssystemen ist der Umgang mit Unsicherheit“, erklärt Gudela Grote, ETH-Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie (2). „Als offene und komplexe Systeme sind sie mit einer Vielzahl interner und externer Störungen konfrontiert, die die Erreichung der Systemziele behindern können.“ Grote unterscheidet zwei Arten des Umgangs mit Unsicherheit: die Minimierung und die Bewältigung. „Der Versuch der Minimierung von Unsicherheit setzt komplexe, zentrale Planungssysteme und eine Reduktion operativer Handlungsspielräume durch Reglementierung und Automatisierung voraus, um einerseits Unsicherheit ‚wegzuplanen’ und andererseits eine hohe Kopplung zwischen zentraler Planung und dezentraler Umsetzung zu erreichen.“ Mit der Strategie der Bewältigung von Unsicherheit werde vom Mythos der völligen Planbarkeit Abschied genommen, „wodurch gleichzeitig ein konstruktives Umgehen mit der Begrenztheit der Planung und eine gezielte Förderung dezentraler Autonomie möglich werden.“ Um Daten aus der Praxis zu erhalten, hat Gudela Grote die Zusammenarbeit im Cockpit eines Flugzeuges und im Operationssaal eines Spitals untersucht. Zugespitzt kann man sagen: In der Teamkoordination macht es Sinn, Regeln strikt zu folgen.

Sicherheitskultur bei Swiss

Das bestätigt Jürg V. Schmid, Vizepräsident Sicherheit der Swiss und erfahrener Chefpilot auf mehreren Passagierflugzeugen, und verweist auf die vielen Checklisten, welche die Piloten während dem Flug ausführen müssen. „Um die Sicherheit im weltweiten zivilen Luftverkehr weiter zu erhöhen, muss den menschlichen Faktoren eine zentrale Beachtung geschenkt werden. Eine detaillierte Studie einer der grössten europäischen Fluggesellschaften hat ergeben, dass nicht nur das einzelne Individuum, sondern auch der sozio-kulturelle Aspekt, die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Besatzung, massgeblich an kritischen Situationen im belastenden oder entlastenden Sinne mitbeteiligt sind.“ Grossen Stellenwert misst Swiss deshalb einem Meldeverfahren bei, in dem sicherheitsrelevante Vorkommnisse rapportiert werden können – ein ähnliches System, wie es auch das Kantonsspital Basel kennt.


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Risikofaktor Mensch: Experten empfehlen, Sicherheitshinweise strikt zu befolgen. Bild: Novartis gross

Eingeführt hat es dort Daniel Scheidegger, Chefarzt Anästhesie und Professor an der Uni Basel. „Der Patientensicherheit wurde in der Vergangenheit als elementares Qualitätsmerkmal eines Behandlungsprozesses wahrscheinlich nicht die notwendige Beachtung geschenkt“, glaubt Scheidegger. „Dies trotz der Tatsache, dass bis zu zehn Prozent der Patienten während dem Spitalaufenthalt und wohl auch im ambulanten Versorgungsbereich Opfer eines Zwischenfalls werden.“ Mit dem Critical Incident Reporting System sollen nun solche Zwischenfälle gesammelt und anschliessend ausgewertet werden. „Das Betreiben eines solchen Systems führt implizit zu einer Veränderung der Fehlerkultur in dem Umfeld, in dem es betrieben wird. Das Critical Incident Reporting System kann das Lernen aus Fehlern nachhaltig unterstützen indem es hilft potentiell kritische Schwachstellen aufzuzeigen.“

Dennoch: Risiko- und Sicherheitsmanagement bleiben primär Methoden, die meistens eine hierarchische Struktur haben, zieht Heinrich Kuhn von der ZHW Bilanz. „Andererseits ist die Risiko- und Sicherheitskultur die entscheidende Dynamik, damit das Risiko- und Sicherheitsmanagement in der horizontalen Dimension diffundiert.“


Risikokultur

(mib) Risikokultur kann unterschiedlich gelebt werden. Im Betrieb kann es Sinn machen, Regeln strikt zu befolgen. Ein Beispiel dafür sind Atomkraftwerke. Sie werden regelmässig von den Mitarbeitern der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) kontrolliert. Unter anderem wird auch der Firmenkultur einen hohen Stellenwert beigemessen, betont Claudia Humbel Haag, Arbeitspsychologin der HSK. Claudia Humbel Haag verweist auf die Vorgaben der internationalen Atombehörde IAEA, welche neben den sichtbaren Artefakte (Leitbilder etc.) auch nicht direkt sichtbare Werte wie Teamarbeit und unbewusst, schwer zugängliche Grundannahmen (Menschenbild etc.) gewichtet.

Den Umgang mit Risiko im Freizeitsport hat Urs Gruber Schmid untersucht. Der Geograph des Eidgenössischen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) entwickelt in Zusammenarbeit mit der kanadischen University of British Columbia ein Simulationsspiel für Skitourenfahrer. Mit dem Simulator soll der Umgang bewusst erfahrbar gemacht werden, sagt Gruber Schmid.




Wörtlich

„Je sicherer technische Systeme werden, umso mehr wird der Mensch zu einem zentralen Risikofaktor. Ein Paradox, das jedoch gut nachvollziehbar ist, wenn man sich vergegenwärtigt, dass eine Kette immer dort bricht, wo das schwächste Glied ist – und das schwächste Glied ist oft der Mensch. Statistiken verdeutlichen diesen Zusammenhang: Im Bereich Luftfahrt ist in mehr als 70 Prozent der Fälle der Human Factor die wichtigste Unfallursache, im Bereich Raumfahrt beträgt der Wert 66 Prozent und im Bereich Kernkraft 52 Prozent.

Diese Werte zeigen, dass gerade in Bereichen mit hohen Sicherheitsstandards der Mensch der Risikofaktor Nummer 1 ist. Darum wird dieser Problematik grosse Aufmerksamkeit geschenkt. Auch aus Sicht der Rückversicherung handelt es sich beim Human Factor um ein zentrales Problem, da solche Schadensfälle oft vorkommen. Die Human Factor-Problematik kann nur mit einem interdisziplinär orientierten Ansatz adäquat erfasst und gelöst werden.“ Heinrich Kuhn




Fussnoten:
(1) Kompetenzzentrum für Sicherheit und Risikoprävention: www.zhwin.ch/risiko/
(2) Institut für Arbeitspsychologie der ETH Zürich: www.ifap.bepr.ethz.ch/



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