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Rubrik: Science Life
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Publiziert: 04.11.2004 06:00

Geschichte der Kernkraft in der Schweiz – oder wenn Historiker in ein Wespennest stechen
Zeitzeugen und Historiker im Gespräch

In den 60er Jahren wollte die Schweiz einen eigenen Atomreaktor entwickeln. Das ehrgeizige Projekt scheiterte jedoch. An einem Podiumsgespräch an der ETH Zürich diskutierten Zeitzeugen und Historiker über die Hintergründe des Scheiterns und welche Lehren daraus gezogen werden können.

Von Lukas Denzler

Es ist falsch zu glauben, die Atomenergie erhitze die Gemüter in der Schweiz erst seit Kaiseraugst. Bereits in den 60er Jahren, als die Schweiz einen eigenen Atomreaktor entwickeln wollte, ging es turbulent zu und her. Und schon damals spielten Geld und Emotionen eine wichtige Rolle. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe zur Geschichte der Kernenergie in der Schweiz diskutierten zwei Zeitzeugen und zwei Historiker am Dienstag unter der Leitung von Rolf Probala (ETH Corporate Communications) über Erinnerungen und historische Analysen.(1) Dabei war man sich nicht in allen Punkten einig.

Bund förderte die Atomenergie

Als Zeitzeugen nahmen Urs Hochstrasser und Rudolf Sontheim am Podium teil. Hochstrasser war von 1961 bis 1969 Delegierter des Bundesrates für Atomenergie, während Sontheim als Direktor der Reaktor AG (die später ins Paul Scherrer Institut überführt wurde) und ab 1960 als Direktor bei der BBC tätig war. In den 60er Jahren galt es, die Weichen für die zukünftige Energieversorgung zu stellen. Der Ausbau der Wasserkraft stiess an ihre Grenzen und es stellte sich die Frage, ob die Schweiz auf fossile Energieträger oder die Atomkraft setzen sollte. Laut Hochstrasser wollte Bundesrat Willy Spühler verhindern, dass ein grosser Teil der zukünftigen Energieversorgung auf fossilen Energieträgern beruht. Deshalb stärkte Spühler die Stellung der Atomenergie innerhalb der Bundesbehörden.

Waren sich nicht in allen Punkten einig. Die beiden ETH-Historiker Tobias Wildi und David Gugerli sowie die Zeitzeugen Rudolf Sontheim und Urs Hochstrasser (v.l.n.r). In der Mitte Moderator Rolf Probala (CC). gross

Die Reaktor AG in Würenlingen wurde gegründet, weil die Entwicklung eines schweizerischen Reaktors durch ein einzelnes Industrieunternehmen unrealistisch war. Rudolf Sontheim berichtete jedoch nicht über seine Tätigkeit bei der Reaktor AG, sondern stellte die Spannungen zwischen Sulzer und der BBC ins Zentrum seiner Ausführungen. Es sei damals um die Wurst gegangen. Nicht ganz klar wurde jedoch, inwiefern auch die Eitelkeiten der Industrieführer eine Rolle spielten. Hochstrasser sagte dazu, man sei beim Bund über die unterschiedlichen Meinungen innerhalb der Industrie bedrückt gewesen.

In dieses Wespennest stachen die beiden Historiker. Tobias Wildi verfasste eine Dissertation über die Anstrengungen der Schweiz, einen eigenen Reaktor zu entwickeln.(2) David Gugerli, seit 1997 Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich, leitete das Forschungsprojekt „Nuclear Energy and Society“. Somit trafen die beiden Zeitzeugen auf zwei „Spätgeborene“. „Doch eine gewisse Distanz ist bei diesem Thema gar nicht so schlecht“, meinte Gugerli.


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Statt Eigenbau, Import ausländischer Reaktortechnologie, z.B. beim Kernkraftwerk Gösgen. Bild: atomenergie.ch gross

„Marignano“ der Schweizer Industrie

Tobias Wildi unterstrich, dass in der Schweiz verschiedene Projekte für einen Atomreaktor zur Diskussion standen. Eines davon war der Atomreaktor unterhalb der ETH mitten in der Stadt Zürich. Beschlossen wurde schliesslich aber der Bau des unterirdischen Versuchsreaktors im waadtländischen Lucens. Noch bevor dieser jedoch fertig gestellt war, bestellten die Nordostschweizer Kraftwerke (NOK) für Beznau ein schhlüsselfertiges Atomkraftwerk in den USA. 1967 stieg Sulzer beim Reaktor von Lucens aus. Die Arbeiten gingen jedoch weiter – und 1969 kam es zum schweren Zwischenfall, der den Reaktor zerstörte. Damit war der Traum vom eigenen Reaktor ausgeräumt und eines der grössten Industrieprojekte in der Schweiz gescheitert. Sontheim bezeichnete Lucens denn auch als „Marignano“ der Schweizer Industrie.

In der Diskussion standen folgende Fragen im Vordergrund: Weshalb scheiterte der Versuchsreaktor in Lucens? Weshalb wurden die Bemühungen, einen eigenen Reaktor zu entwickeln, anschliessend nicht fortgesetzt? Und weshalb wurden die Projekte, nachdem die NOK ihr Atomkraftwerk in den USA bestellte, nicht abgebrochen? Urs Hochstrasser ist überzeugt, dass die Entwicklung in der Schweiz gestoppt wurde, weil in den 70er Jahren der Widerstand gegen die Kernkraft wuchs. Die beiden Historiker sehen dies jedoch anders. Die Projekte seien nicht wegen der kritischen Haltung der Öffentlichkeit gescheitert. Der Widerstand gegen die Kernkraft hätte sich in jener Zeit erst zu formieren begonnen.

Eine interessante Meinung äusserte ein Zuhörer aus dem Publikum. 1970 hätten sich schlicht und einfach die Voraussetzungen geändert. Die Schweiz habe die politische Unabhängigkeit in Sachen Atomenergie aufgegeben, die Entwicklung sei immer mehr in Richtung grössere Leistungen der Reaktoren gegangen und die Amerikaner hätten sehr günstige Angebote gemacht. Da hätte die Schweizer Industrie mit einem eigenen Reaktor einfach nicht mehr mithalten können. Weshalb jedoch der Versuchsreaktor in Lucens dennoch fertig gebaut wurde, bleibt rätselhaft. Die Historiker haben bisher keine Hinweise gefunden, dass die Armee Einfluss genommen hatte, um beispielsweise Zugang zu waffenfähigem Plutonium zu erhalten.

Einfluss durch politische Konjunkturen

Zum Schluss stellte Rolf Probala die Frage, was wir aus der Geschichte lernen können. Tobias Wildi meinte, dass trotz des Misserfolgs in Lucens, die Zusammenarbeit bei grossen, visionären Projekten über Firmen hinweg wichtig und richtig sei. Der Bund müsse als echter Partner gesehen werden und nicht nur als Geldgeber, sagte Urs Hochstrasser. Dass die Politik eine wichtige Rolle spiele, steht auch für David Gugerli fest. Grosstechnische Entwicklungen hingen eben von politischen Konjunkturen ab, meinte er.

Keine Antwort erhielt das Publikum auf die Frage, ob die Schweiz ihre Kernkraftwerke durch neue ersetzen soll. Das wäre auch eine andere Geschichte. Diskutiert wurde an diesem Abend nicht über die Kernkraft heute, sondern über ein grosses, firmenübergreifendes Projekt der Industrie der 60er Jahre.


Fussnoten:
(1) Website zur öffentlichen Veranstaltungsreihe zur Geschichte der Kernenergie: www.tg.ethz.ch/lehre/veranstaltungen/04_05Kernenergie/programmdetail.htm
(2) ETH Life-Bericht vom 17. Mai 2003: „Der Traum vom eigenen Reaktor“: www.ethlife.ethz.ch/articles/atom_buch.html



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