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Rubrik: Tagesberichte |
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"Fallstudie Thur" Mehr Raum für den Wildfluss |
Die Thur soll mehr Platz erhalten. Das hat die Thurgauer Regierung beschlossen. Angehende Umweltnaturwissenschafter haben zusammen mit Forschern der ETH und der Eawag eine mögliche Revitalisierung des Flusses wissenschaftlich analysiert. Von Michael Breu Gemächlich und ruhig fliesst die Thur in ihrem knappen Korsett. Das ist nicht immer so, der Fluss kann auch anders. Zum Beispiel Ende August 2002, als er mehrere Gebiete im Kanton Thurgau überschwemmte. Oder an Pfingsten 1999, der letzten grösseren Katastrophe. Verglichen zu den Hochwassern von 1876/77 und 1977/78 waren die Schäden jedoch verhältnismässig klein; die „Thurkorrektur“ konnte das Schlimmste verhindern. Gebaut wurde sie von 1876 bis 1893, ein gigantisches Werk. Man wähnte sich damals in Sicherheit. „Doch der Fluss folgt immer den Gesetzen der Natur, nicht den Wunschvorstellungen der Menschen“, schreibt das Thurgauer Amt für Umweltschutz in einer aktuellen Broschüre. Das Hochwasser vom 7. August 1978 illustriert dies deutlich: Die Thur verursachte beim grössten Hochwasser im vergangenen Jahrhundert einen Schaden von über 12 Millionen Franken (zu den damaligen Preisen gerechnet). Das soll nicht wieder passieren, fand die Thurgauer Regierung und lancierte 1979 das „Thurrichtprojekt“, das vom Grossen Rat 1982 gutgeheissen wurde. „Die zur Zeit laufenden Korrektionsarbeiten an der Thur gehören zu den Massnahmen, die nach dem letzten grossen Hochwasser von 1978 unter dem Titel Thurrichtprojekt 79 beschlossen wurden“, sagt Marco Baumann, Leiter der Abteilung Wasserwirtschaft am Thurgauer Amt für Umweltschutz. Der Hochwasserschutz stehe im Vordergrund, mitberücksichtig werde auch die ökologische Aufwertung (1).
Seit vergangenem Oktober arbeiten 35 Studentinnen und Studenten der Umweltnaturwissenschaften der ETH Zürich und zehn Forscherinnen und Forscher am Projekt mit, begleitet von Bernhard Wehrli, Professor für Wasserchemie an der Eawag in Kastanienbaum, und Christoph Schär, Professor am Institut für Atmosphäre und Klima an der ETH Zürich. In den letzten fünf Monaten haben sie mit einer Fallstudie die Revitalisierung der Thur unter die Lupe genommen; am Mittwoch vergangener Woche stellten sie ihr Projekt im Weinfelder Ratssaal der Öffentlichkeit vor (2). Fluss als Erholungsraum Eine erste Gruppe versuchte mit einer Umfrage die Wünsche der Bevölkerung von Weinfelden und Bürglen zu erfahren. Ihr Fazit: „Die ideale Thur wäre naturnah und böte die Möglichkeit, die Landschaft weiterhin als Erholungsraum zu nutzen“, sagt der Student Rolf Debrunner. Erfreulich findet Mischa Zschokke, dass „eine Einigung zwischen den Bedürfnissen des Naturschutzes und jenen der Bevölkerung grundsätzlich möglich ist.“ Die Studierenden stellen vier Projekte zur Diskussion. Die „Nullvariante“ steht für den heutigen Zustand. Die „Minimalvariante“ will, dass die Uferverbauungen künftig nicht mehr unterhalten und über längere Zeit wieder der Thur zurückgegeben werden; kleinere Aufweitungen sollen dem Fluss mehr Raum geben. Die „Kantonsvariante“ sieht ein technisches Rückhaltebecken vor, das dem Hochwasserschutz dient; grosse Aufweitungen sollen der Thur zudem mehr Platz geben.
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Bei der vierten, „naturnahen Variante“ wird „auf eine möglichst ökologische Landschaftsgestaltung geachtet“, erklärt Jacqueline Bolli. „Eine Aufweitung wird der Thur mehr Raum geben, das Hochwasser-Rückhaltebecken wird ökologisch ausgestaltet, und auf der Nordseite wird ein Seitenarm geschaffen.“ Mit einer Nutzwert-Analyse haben die Studierenden die Varianten auf sechs Kriterien (Hochwasserschutz, Naturschutz, Kosten, Grundwassernutzung, Freizeit und kommerzielle Landnutzung) geprüft. Fazit: „Die naturnahe Variante findet bei der Bevölkerung viel Unterstützung.“ Bernhard Wehrli von der Eawag findet: „Die Kantonsvariante könnte ein guter Kompromiss sein.“ Effizienz von Kläranlagen steigern „Bei Niedrigwasser im Sommer ist die Wasserqualität der Thur oft unbefriedigend“, findet Daniel Schläpfer von der Arbeitsgruppe „Regionale Gewässerbelastung“. Zusammen mit seinen Kollegen modellierte der angehende Umweltnaturwissenschafter, wie Nährstofffrachten im Thur-Einzugsgebiet beeinflusst werden und woher sie stammen. Die Computermodelle zeigen: Ein Viertel der Belastung stammt aus Kläranlagen, welche die Thur als Vorfluter nutzen, und durch den Ackerbau entstehen grössere Belastungen als durch die Viehwirtschaft. „Die Wasserqualität der Thur könnte bei einer Effizienzsteigerung der Kläranlagen verbessert werden“, heisst eine der Schlussfolgerungen. Den Thurverlauf von 1854 hat die Gruppe „Ökologische Diversität“ mit dem heutigen verglichen. „Im kanalisierten Bereich der Thur ist weder die Ökologie noch der Hochwasserschutz in optimalem Zustand“, findet Seraina Steinlin. „Die Aufweitung von mindestens hundert Metern würde eine grössere Strukturvielfalt schaffen.“
Hochwasser im Winter Schlussendlich aber hängt das ganze Projekt „Revitalisierung“ von künftigen Hochwasserszenarien ab; der Regierungsrat des Kantons Thurgau hat dies in einer Interpellationsantwort vom 26. September 1989 unmissverständlich betont. Die Arbeitsgruppe „Klima und Hydrologie“ hat „die wichtigsten hydrologischen Grössen wie Abflussmenge, Verdunstung und Schneespeicher im Thur-Einzugsgebiet unter hypothetischen Zukunftsbedingungen simuliert“, erklärt Daniel Gasser. Sollte die durchschnittliche Temperatur um drei Grad ansteigen und die Niederschlagsmenge um sieben Prozent zunehmen – „ein zartes Szenario“, wie Klimaforscher Christoph Schär meint –, müsste man im Winter mit einer Niederschlagszunahme um maximal dreissig Prozent rechnen, im Sommer hingegen würde sie um etwa zehn Prozent abnehmen. Die Auswirkungen: „Die Simulationen deuten auf eine Zunahme von Niedrigwasserereignissen im Sommer und einer Zunahme von Hochwasserereignissen im Winter hin.“ Für Daniel Gasser bedeutet dies, „dass ein künftiger Klimawandel die Hochwassersituation an der Thur stärker beeinflusst als Veränderungen der Landnutzung.“ Fallstudie wird ins Projekt einfliessen Die Planungsarbeiten für die Revitalisierung zwischen Bürglen und Weinfelden haben bereits begonnen; der Kanton Thurgau hat dies im Oktober 2002 der Öffentlichkeit mitgeteilt. Damit später der Erfolg der Massnahme verfolgt werden kann, hat sich eine Arbeitsgruppe mit solchen Kontrollen befasst. David Wettstein empfiehlt, das Projekt mit einer Erfolgskontrolle wissenschaftlich zu begleiten. Den formulierten Varianten attestiert er „gut ausformulierte Hochwasserschutzziele“. Die „Fallstudie Thur“ der ETH Studierenden wird nun von den Beamten des Thurgauer Amtes für Wasserwirtschaft genauer studiert; die Ergebnisse sollen in das Projekt einfliessen, sagt Marco Baumann, Leiter des Amtes und selbst ehemaliger ETH-Absolvent. |
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