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Rubrik: Tagesberichte |
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Erdbebenkatalog: Ein weiteres Puzzleteilchen wird hinzugefügt Ein Erdbeben verschwindet aus der Statistik |
In den Ostschweizer Geschichtsbüchern steht es: Am 20. Dezember 1720 erzitterte die Erde in der Bodenseeregion und verursachte an Gebäuden grosse Schäden. Nun haben Forschende der ETH Zürich die Intensität des „schrecklichen“ Erdbebens nach unten korrigiert. Jetzt müssen die Geschichtsbücher umgeschrieben werden. Von Michael Breu Ein wenig vor halb sechs Uhren, hoerte der Wind in etwas auf, folgete aber bald darauf ein entsetzliches Erschüteren der Häuseren, so dass ich, noch im Bett ligend, vermeinte Kästen und Bettstat in der Kammer werde über einen Hauffen fallen: Zum wenigsten werde in dem Hauss kein Fenster-Scheiben ganz bleiben: währte aber nicht lang; sondern hörte alsbald auf, und hörte hernach das geringste des Erdbebens, weder an dem Hausrath, noch sonsten nicht vermerken. Hingegen hat die starke Bewegung in verschiedenen Häusern die Holzbeigen umgeworffen; das ausert dem Schreken, kein weiteren Schaden verursacht. Wir schreiben den 20. Dezember 1720, als die Erde rund um den Bodensee erzitterte und der Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) in seinen „Lettres de St.-Gall“ das schreckliche Ereignis beschrieb. Das Erdbeben ist heute in mehreren Ostschweizer Geschichtsbüchern verzeichnet, und auch an Schulen wird darüber referiert. Zum Beispiel in den Worten des Trogeners Laurenz Zellweger, einem Augenzeugen: Den 9ten (nach dem Julianischen Kalender) diss monatss verspürte man allhier jm Land und zu St.Gallen, & a. morgenss um 5 ½ Uhr ein ziemlich heftiges Erdbidem, welches aber kaum ein Minute gewähret, die Häuser wurden sehr stark erschüttert und ich selbsten im Bett aufgeworffen. Auch in Langenargen, jenseits des Bodensees, wurde das Erdbeben „verspürt“, ebenso wie in Stein am Rhein, Altstätten, Rheineck, Mörschwil, Weinfelden und Konstanz. In einer anderen Quelle heisst es: Zu Abbenzell selbsten hat der ungestüme Wind vil Tächer, (besonders ab dem Capuciner Closer) Kamine und Bäume darnidergeworffen, und dahero ein solche Schreken erwerket, dass die guten Leüte selber nicht wüssten, ob sie des Erdbebens gewahr worden oder nit. Bislang ging man davon aus, dass das Ostschweizer Erdbeben von 1720 eine Intensität von VIII (MSK) erreicht haben musste. Mit den Skalen der makroseismischen Intensität wird die Stärke eines Bebens aufgrund der registrierten Schäden beschrieben. In der heute gebräuchlichen 12-stufigen Skala EMS 98 steht Intensität I für „nicht fühlbar“, Intensität VIII für „stark beschädigt“ und Intensität XII für „vollständig verwüstet“. Rekonstruiert werden diese Schadensbilder dank historischen Überlieferungen. Heute zieht man zur Qualifizierung auch andere Parameter hinzu – etwa die gemessene Schwingungsenergie mittels der Richterskala. Nun haben Forschende um Monika Gisler und Donat Fäh vom Schweizerischen Erdbebendienst der ETH Zürich(1)die historischen Quellen des Ereignisses von 1720 genauer unter die Lupe genommen und einige Ungereimtheiten festgestellt. Im neuen, überarbeiteten Schweizer Erdbebenkatalog(2) wird deshalb das Ereignis am Bodensee um zwei Intensitäten von VIII auf VI zurückgestuft. Im Fachmagazin Journal of Seismology beschreiben die Forschenden, weshalb die Intensität falsch eingestuft wurde (3). „Wahrscheinlich handelt es sich einerseits um einen Übersetzungsfehler“, sagt die Historikerin Monika Gisler.
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„Der Chronist Elie Bertrand übersetzte aus Johann Jakob Scheuchzers Briefen 'Häuser erzitterten’ in 'maisons renversées’, zerstörte Häuser.“ Später wurde diese falsche Version vom Französischen ins Deutsche zurück übersetzt. „Die Originalquelle von Scheuchzer hat dann niemand mehr konsultiert. Deshalb blieb der Fehler erhalten“, erklärt Monika Gisler. Andererseits seien einzelne Beschreibungen überbewertet und unkritisch übernommen worden – vermutlich jene aus Appenzell. Eine wahrscheinlich korrekte Version haben die Forscher hingegen in der Chronik der Stadt Lindau von 1730 gefunden, in der mit keinem Wort von Gebäudeschäden berichtet wird. Darin heisst es: Den 20 Decembris (1720) des Morgens früh zwischen 5 und 6 Uhr hat sich allhier zu Lindau ein zimlich starck Erdbeben spüren lassen, die meiste Häuser in der Stadt erschittert, und einen grossen Schrecken unter den Leuten verursacht. Doch nicht nur die Intensität wurde im bestehenden Katalog falsch angegeben. Die ETH-Forschenden haben auch herausgefunden, dass das Epizentrum des Bebens eher in Arbon gelegen haben musste und nicht in Lindau, wie es in älteren Katalogen bislang überliefert war. Für die Ostschweizerinnen und Ostschweizer haben die Resultate der ETH-Forschenden zur Folge, dass ihr „schreckliches“ Erdbeben aus der Statistik verschwindet. Die Region rund um den Bodensee kann als frei von Erdbeben mit starken Schäden gelten, zumindest solange keine bislang unbekannten Daten vorliegen – oder sich ein Erdbeben ereignet. Und die Geschichtsbücher können um das Ereignis von 1720 erleichtert werden. Eine schöne Konsequenz.
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Literaturhinweise:
Fussnoten:
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