www.ethlife.ethz.ch |
Rubrik: Tagesberichte Interdisziplinäre Tagung „Diagnosprozesse und Wissenssysteme“ Medizin der Zeichen – Zeichen der Medizin |
Published: 26.01.2005 06:00 Modified: 25.01.2005 15:33 |
|||||||||||||||
Ihre heutigen Erfolge verdankt die Medizin den naturwissenschaftlichen Methoden. Während vieler Jahrhunderte war die Medizin jedoch die Lehre der Krankheitszeichen. Eine interdisziplinäre Tagung des Collegium Helveticum versuchte am vergangenen Wochenende, den naturwissenschaftlichen Ansatz mit einer modernen Form des alten Ansatzes zu vernetzen. Von Gabi Aebli Hohes Fieber, Husten, Schmerzen in der Brustgegend und ein allgemeines Schwächegefühl: Ein Mensch mit diesen Symptomen ist krank. Schildert der Patient seinem Arzt die Krankheitszeichen, wird dieser mit einem Stethoskop die Lunge abhören und sie röntgen. Als Resultat seiner Untersuchung weiss der Arzt: Es ist eine Lungenentzündung. Seit jeher wundern sich Leute, wieso der Mediziner dies so bestimmt sagen kann. Rund 70 Personen aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen lauschten deshalb am vergangenen Wochenende im Meridiansaal der Sternwarte der ETH Zürich den einleitenden Ausführungen Georg Schönbächlers, Organisator der Tagung „Diagnoseprozesse und Wissenssysteme“ des Collegium Helveticum (1) : „Methodisch gesehen sammelt ein Arzt zuerst Untersuchungsdaten: Symptome, die er mit seinen Sinnen wahrnimmt oder indirekt über Bild gebende oder chemischen Verfahren erhebt.“ Anschliessend gruppiere er die aufschlussreichen Symptome zu einer Einheit, die er als Mediziner kennt. „Dieser Einheit kann er – kraft seiner Kenntnis des medizinischen Kodes – den entsprechenden Krankheitsbegriff zuordnen.“ Symptome und Worte sind ZeichenIn der Lehre der Zeichen, Semiotik genannt, können laut Roland Posner, Professor für Semiotik an der Technischen Universität Berlin, Symptome als elementare Zeichen betrachtet werden. Als Indizes verweisen sie zum Beispiel in einem Ursache-Wirkung-Verhältnis auf eine Erkrankung des Körpers, ähnlich wie Rauch auf Feuer. Im Unterschied zu diesen natürlichen Zeichen ist ein Symbol ein konventionelles Zeichen; Worte etwa sind Symbole. Ihr Klang und ihre Bedeutung werden von einer Sprachgemeinschaft festgelegt (2) .
Schönbächler: „Die Diagnosefindung ist also ein erster Zeichenprozess, in dem aus Symptom-Gruppen Krankheitsbegriffe ermittelt werden.“ Sobald der Arzt jedoch mit dem Patienten über die Diagnose spricht, komme ein weiterer Zeichenprozess in Gang. Denn die benutzten Worte gehören auch in das Reich der Zeichen. Durch ihr Gespräch sind Arzt und Patient also in einen hoch komplexen Zeichenprozess verwickelt. Da hier alles unter dem Aspekt von Zeichen betrachtet wird, nennt man dies den semiotischen Ansatz der Medizin. Das Gespräch als Teil einer TherapieDer streng naturwissenschaftliche Ansatz macht sich zwar auch die Ursache-Wirkung-Beziehung von Symptom und Krankheit zunutze. Sein alleiniges Ziel ist jedoch die Behebung der Ursache. Das heisst: Die Krankheit soll – ähnlich der Störung in einer komplexen Maschine – behoben werden. Weil jedoch Worte bei Maschinen wenig nützen, ist diese „Therapie“ nicht vorgesehen. Dagegen trägt im semiotischen Ansatz der Verlauf eines Arzt-Patientengesprächs unter Umständen schon zur Heilung bei. Patienten können sich zum Beispiel gleich besser fühlen, wenn sie merken: Der Arzt kennt meine Krankheit, es gibt eine Therapie und danach bin ich wieder vollständig gesund. Dies ist – wie übrigens auch die Wirkung von Placebo – naturwissenschaftlich nicht erklärbar. Grundsätzlich unvereinbar sind die beiden Ansätze jedoch nicht; Posner zeigte, dass jede Kommunikation auch kausale Elemente beinhaltet. Wenn etwa der Arzt dem Patienten eine Therapie vorschlägt, bezieht sich diese auf die Diagnose, welche wiederum auf der Kenntnis des Ursache-Wirkung-Verhältnisses von Krankheit und Symptomen beruht. Der naturwissenschaftliche Ansatz ist also im semiotischen enthalten. Nicht das Gehirn fühlt und denktWie wichtig es ist, sich der semiotischen Grundlagen von Diagnoseprozessen bewusst zu sein, zeigt sich in der Psychiatrie. Daniel Hell, Professor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Burghölzli in Zürich, erklärte: „Symptome, welche aus sprachlichen Mitteilungen über bestimmte Erlebensweisen abgeleitet würden, verweisen nicht wie Indizes auf eine reale, für jeden Krankheitsbegriff einheitliche körperliche Veränderung.“ Oft geschehe aber genau das: Die Symbole werden mit Indizes verwechselt. Als Folge dieser Reduktion des menschlichen Erlebens auf Gehirnfunktionen reduzierten sich die Behandlungsansätze auf pharmakologische Massnahmen. Hell plädierte deshalb für ein biokulturelles Verständnis psychischer Erkrankungen, das den Patienten mit seiner individuellen Geschichte erfasst und ihn als ganze Person behandelt.
Dass Erkenntnisgewinnung nicht unabhängig von den daran beteiligten Personen ist, zeigte unter anderem Patricia Fry, Wissensmanagerin im Umweltbereich. Fry: „Bauern und Bodenwissenschafter untersuchen einen Boden auf sehr unterschiedliche Weise: Der Bauer erkennt beim Pflügen am Geruch der Erde, ob der gesäte Raps gedeihen wird. Der Bodenkundler nimmt Proben, die er im Labor auswertet.“ Ohne das Bewusstsein, dass diese Diagnosen Zeichenprozesse sind, werde Wissensvermittlung sehr schwierig. Denn die Bauern und Bodenwissenschafter sprächen je eine andere Fach-Sprache. Fry selbst versucht zwischen den beiden Parteien und ihren Wissenssystemen zu vermitteln.
Einige Zuhörer wünschten sich in der anschliessenden Diskussion auch in der Medizin solche Übersetzer. Eine heute kaum noch verständliche medizinische Sprache redete laut Pirmin Meier, Gymnasiallehrer und Publizist, auch der Arzt Theoprast von Hohenheim Paracelsus (1493 bis 1541). Denn der menschliche Körper war für Paracelsus kein Einzelding, herausgeschnitten aus der Gesamtheit der Dinge. So setzte er alles mit allem in Beziehung und deutete sein Leben lang Zeichen. Da lagen experimentelle Beobachtung und Magie, chemische Rezeptur und astrologische Talismane eng zusammen.
Footnotes:
|