ETH Life - wissen was laeuft

Die tägliche Web-Zeitung der ETH Zürich - in English

ETH Life - wissen was laeuft ETH Life - wissen was laeuft
ETH Life - wissen was laeuft
Home

ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Tagesberichte
English Version English Version
Print-Version Drucken
Publiziert: 12.11.2003 06:00

Risikodiskurse: Manuel Eisner über die Kommunikation von Risiken
"Katastrophen sind wichtige Einzelereignisse"

"Viele Katastrophenprognosen haben den heilsamen Effekt, dass sie zu entschiedenem politischen Handeln führen", sagt der Soziologe Manuel Eisner. Dennoch können sie zu übertriebenen Ängsten führen. Der ehemalige ETH-Forscher im Gespräch mit ETH Life.

Interview: Michael Breu

Im Buch "Risikodiskurse" werfen Sie den Blick zurück auf knapp 50 Jahre Umweltpolitik. Die Beispiele Gewässerschutz, Kernenergie, Waldsterben und Gentech zeigen: Der Einfluss der Medien an der Wahrnehmung eines möglichen Umweltproblems ist gross. Welchen Einfluss haben die Medien heute?

Manuel Eisner: Die Medien können die Wahrnehmung von Umweltproblemen nicht alleine bestimmen, sie sind aber ein zentraler Faktor. Kein modernes Umweltproblem kann von Laien eingeschätzt oder gar erlebt werden, ohne dass die Medien das entsprechende Problem kommunizieren. Viele Studien zeigen, dass Laien das Ausmass der Medienberichterstattung als Zeichen für die Gefährlichkeit des Problems betrachten – auch wenn dies nicht mit einer wissenschaftlichen Risikoeinschätzung übereinstimmt.

Beispiel Acrylamid: Kaum wiesen Forscher den Schadstoff in Lebensmitteln nach, ging ein Sturm der Entrüstung durch die Medien, und die Konsumenten schienen zu glauben, von Chips und Pommes Krebs zu bekommen. Über andere Schadstoffe, die ebenfalls in unseren Lebensmitteln natürlich vorkommen, spricht kaum jemand – eine einseitige Wahrnehmung?

Eisner: Sicherlich. Die Konjunktur des Themas Acrylamid seit April 2002 zeigt sehr schön die gesellschaftliche Eigendynamik des Umgangs mit Risiken. Völlig unvermittelt entsteht aufgrund einer einzelnen Studie und ihrer Verbreitung über die Medien ein Angstklima, durch das dann Wissenschaft und Politik mobilisiert werden. Mit einer realistischen Einschätzung relativer Risiken hat dies nicht zu tun.

Impfen ist ein anderes Beispiel. Der Stabilisator Thiomersal, eine organische Quecksilber-Verbindung, wird heute dem Impfstoff mehrheitlich nicht mehr hinzugefügt; die Angst vor einem möglichen Schaden war zu gross. Wer nachrechnet, kommt zu einem erstaunlichen Resultat: Eine Dose Thunfisch enthält bis zu sechs Mal mehr Quecksilber als eine Impfung – und niemand protestiert. Weshalb diese ungleiche Wahrnehmung?

Eisner: Ein gesichertes Ergebnis der sozialwissenschaftlichen Risikoforschung ist, dass wir freiwillig eingegangene Risiken als weniger gravierend einschätzen als Risiken, die uns aufgezwungen werden. Thunfisch ist hierzulande ein Lebensmittel, das leicht auch vermieden werden kann. Impfungen hingegen werden dem Kind aufgezwungen, und die Eltern fühlen sich für den Entscheid verantwortlich. Allerdings: Nichts spricht dagegen, das morgen das Quecksilber im Thunfisch zum Risikothema werden könnte.

DDT-Produktion der Basler Chemiefirma Geigy (1941): Zuerst wurde DDT gelobt, später kritisiert, heute wird von einzelnen Forschern eine Neubeurteilung gefordert. Der Einsatz des Insektizides ist in den meisten Ländern nicht mehr erlaubt. Archivbild: Novartis gross

Der Sozialstatistiker Walter Krämer schreibt in seinem Buch "Die Panikmacher" von einem "Wahrnehmungsproblem", von einer falschen Risikoabwägung, die unseren Alltag prägt. Sie haben die psychologische Wahrnehmung untersucht. Weshalb sind wir in vielen Bereichen nicht fähig, eine objektive Risikoabwägung vorzunehmen?

Eisner: Natürlich spielt eine anthropologische Komponente mit: Wir verfügen über keine Organe, um moderne Risiken sensorisch einzuschätzen. Und unsere Ängste sind eben sehr stark emotionale und gesellschaftliche Phänomene, die nur indirekt durch Wahrscheinlichkeitsberechnungen der Naturwissenschaft beeinflusst werden. Man muss aber gleichzeitig sagen, eine objektive Risikoeinschätzung gibt es nicht: Viele Risiken sind bedrohlich, weil sie in der Zukunft eintreten könnten. Wie wahrscheinlich dieses zukünftige Risiko ist und ob wir es akzeptieren wollen, kann von der Naturwissenschaft alleine nicht beantwortet werden.


Zur Person: Manuel Eisner

Manuel Eisner, geboren am 7. Mai 1959, Studium der Geschichte, Soziologie und Sozialpsychologie in Zürich und London; von 1996 bis 2002 Assistenzprofessor für Soziologie an der ETH Zürich. Gegenwärtig Acting Director und Reader am Institute of Criminology der University of Cambridge.




Am 25. April 1986 explodierte der vierte Reaktorblock im Kernkraftwerk von Tschernobyl. Der "Super-Gau" hat die Risikodebatte und die Politik entscheidend geprägt.

Der Umweltbereich scheint davon am stärksten betroffen. Gleich mehrmals müsste die Welt schon untergegangen sein, hätten die Prognosen von Greenpeace & Co. zugetroffen. Dennoch empört sich niemand über die vielen Falschprognosen. Weshalb?

Eisner: Viele Katastrophenprognosen haben den sehr heilsamen Effekt, dass sie zu entschiedenem politischen Handeln führen. Wer weiss, welche Schäden in Luft, Wasser und Böden wir heute hätten, wenn es die Umweltbewegung nicht gegeben hätte? Ob man das möchte oder nicht: Neue Themen werde für die Politik nur relevant, wenn sie als massiv bedrohlich dargestellt werden. Und natürlich akzeptieren wir lieber eine Katastrophe, die nicht eintritt, als Sicherheitsbekenntnisse, die uns in die Katastrophe führen.

Brauchen wir die "tägliche Katastrophe"?

Eisner: Unsere Studie zeigt: Katastrophen sind überaus wichtige Einzelereignisse, die zwar naturwissenschaftlich betrachtet nicht so wichtig sein mögen, aber in der Gesellschaft als Mahnmale für ein Problem erscheinen und damit die Wahrnehmung prägen.


"Risikodiskurse"

(mib) Gewässerverschmutzung, Waldsterben, Tschernobyl und Gentechnologie: In der Wahrnehmung der westlichen Industriegesellschaften werden die komplexen Problemfelder auf einen Nenner gebracht, auf die Zerstörung der natürlichen Umwelt. "Wenn Probleme in einer Gesellschaft als wirklich existierend wahrgenommen werden, dann haben sie reale Auswirkungen in Form der hierdurch ausgelösten politischen, massenmedialen, gesetzlichen oder wissenschaftlichen Reaktionen auf das Problem", schreiben Manuel Eisner, Nicole Graf und Peter Moser im kürzlich erschienenen Buch "Risikodiskurse". Das Autorenteam interessierte dabei weniger, ob die Probleme wirklich existieren, untersucht wurde "die Dynamik öffentlicher Debatten über Umwelt- und Risikoprobleme in der Schweiz." Finanziell unterstützt wurde das Buch vom Schwerpunktprogramm "Zukunft Schweiz" des Schweizerischen Nationalfonds und der ETH Zürich.

Als Grundlage dienten dem Team Zeitungsarchive des Zürcher "Tages-Anzeigers", der "Neuen Zürcher Zeitung" und des Boulevardblattes "Blick" von 1958 bis 1998. Ausgewertet wurden Textlängen zu einzelnen Stichworten, Bildanteile und redaktionelle Gewichtungen. Die erhaltenen Daten wurden dann den "Akteuren" (Problempromotoren, Gegenspieler und Experten), den "Deutungsmustern" (Problemdefinition, Ursachen und Wirkungen, Wertorientierung, Rhetorik) sowie den "Prozessen" zugeordnet. Dabei zeigte sich, "dass Probleme eine Karriere in mehreren Stadien durchlaufen"; dazu gehören Protest-, mediale Themen- und Policy-Zyklen, die vier zeitlich unterschiedlichen Phasen zugeordnet werden können: der Latenz-, Eskalations-, Kulminations- und Normalisierungsphase.

"Unsere Fallstudien zeigen, dass die Ausgangskonstellationen von Promotoren ausserordentlich vielfältig sein können und insbesondere Akteure aus dem politischen Establishment eine zentrale Rolle spielen", schreiben die Forscher. Die Debatte um die Gewässerverschmutzung (1958-1972) wurde von Wissenschaftern der Schweizerischen Vereinigung für Gewässerschutz und Vertretern der Eidg. Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (Eawag) geprägt, die Kernkraftdiskussion in Form von Bürgerinitiativen (1965-1985), das Waldsterben von Forstbeamten (1983-1990), die Tschernobyl-Katastrophe von links-grünen Parteien und Umweltorganisationen (1986-1990) und die Gentech-Debatte von Aktivisten wie der Schweizerischen Arbeitsgruppe Gentechnologie (seit Mitte der 1980er-Jahre). "Auffallend ist, dass erfolgreiche Problematisierungen von Umwelt- und Risikoproblemen in der Regel gleichzeitig zur Mobilisierung auf einer lokalen Ebene wie auch einer nationalen Ebene führen. Die lokale Ebene dient der Veranschaulichung; sie zeigt die konkrete Problemsituation, sei dies nun der Standort eines Versuchsfeldes mit gentechnisch modifiziertem Mais, der Schauplatz eines Fischsterbens oder der Wald in der eigenen Gemeinde, dessen Zustand den Bürgern durch einen Förster anschaulich vor Augen geführt wird", schreiben die Forscher. Die nationale Ebene hingegen verleihe dem Problem "einen generalisierten Interpretationsrahmen sowie eine die Einzelereignisse überdauernde Identität". Von "herausragender Bedeutung" sei es, ob die Wissenschafter als Problempromotoren (wie in der Gewässerschutz-Debatte) oder als Gegenspieler (wie in der Gentech-Debatte) fungierten.

In ihrer Arbeit kommen die Forscher zum Schluss: "In allen fünf Fallstudien war der Gebrauch einer Katastrophenrhetorik sehr auffällig. Der Umweltdiskurs scheint von dieser Rhetorik zu leben, wobei die Resonanz in der Öffentlichkeit nicht immer gleich gross war." Zwischen 1970 und 1973, als sich die Vorstellung eines drohenden ökologischen Kollapses erstmals in den Köpfen festsetzte, sowie in der Zeit zwischen 1984 und 1987, als die Umweltdebatte ihren absoluten Höhepunkt erreichte, "konnte die Katastrophenrhetorik grössere alltagsweltliche Plausibilität entwickeln als in den Zeit vorher und nachher." In dieser Phase spielte die Berichterstattung in den Medien eine entscheidende Rolle; die Forscher formulieren es zurückhaltend: "Einzelne Schadensereignisse, Proteste oder Konflikte haben im Mediensystem einen hohen Nachrichtenwert, da sich ihre Dramaturgie den Prinzipien der Informationsverarbeitung durch die Medien (Neuigkeit, Konflikt, Schaden) fügt."




Literaturhinweise:
Manuel Eisner, Nicole Graf, Peter Moser: „Risikodiskurse. Die Dynamik öffentlicher Debatten über Umwelt- und Risikoprobleme in der Schweiz“, Seismo Verlag, Zürich 2003: www.seismoverlag.ch/
Zum gleichen Thema erschien im „Bulletin“ der ETH Zürich (Nr. 277, April 2000): „40 Jahre Umwelt- und Risiko-Diskussion: Themen-Karrieren in Öffentlichkeit und Wissenschaft“: www.cc.ethz.ch/bulletin/. Empfehlenswert ist auch das Buch „Die Panik-Macher“ (Piper Verlag, München 2001) von Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Universität Dortmund, und Gerald Mackenthun, Wissenschaftsredaktor der Deutschen Presse-Agentur in Berlin: www.piper.de/
.



Sie können zu diesem Artikel ein Feedback schreiben oder die bisherigen lesen.




!!! Dieses Dokument stammt aus dem ETH Web-Archiv und wird nicht mehr gepflegt !!!
!!! This document is stored in the ETH Web archive and is no longer maintained !!!