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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 13.09.2001 06:00

Kurt R. Spillmann zum Terror in den USA
"Schwäche der offenen Gesellschaft ausgenutzt"

Die USA und die Welt stehen unter Schock: die verheerenden Anschläge in New York und in Washington haben tausende von Opfern gefordert, wie sich gestern abzeichnete. Die Attacken sind das Werk einer kleinen, hochprofessionellen Terrorgruppe, glaubt Kurt R. Spillmann, Professor für Sicherheitspolitik an der ETH.

Interview: Norbert Staub

Was ist aus Ihrer Sicht an Neuem zu Urheberschaft und Motiv der fürchterlichen Anschläge in den USA bekannt?

Prof. Kurt R. Spillmann: Wir wissen aus Telefonanrufen von Opfern in den Flugzeugen, dass die Entführer das Steuer übernahmen und die Insassen mit blossen Messern und Kartonschneidern, also mit primitivsten Mitteln, in den hinteren Teil der Maschinen getrieben haben. Die Opfer wurden von den Entführern aufgefordert, ihren Angehörigen via Telefon mitzuteilen, dass Sie bald sterben werden - eine unglaubliche Kombination von Primitivität und Vertrautheit mit modernster Technologie. Das weist auf Terroristengruppen, die von ihrem Hass auf Amerika so aufgefressen sind, dass sie diesem Staat so viel Schaden wie nur möglich zufügen wollen. Egal, wie viele Unbeteiligte dabei sterben müssen.

Vermutungen über die Täterschaft gehen einmal mehr in Richtung des radikalislamischen Terroristen Osama bin Laden - für wie plausibel halten Sie dies?

Spillmann: Es kann momentan nur spekuliert werden, aber bisher habe ich keine Gründe anzunehmen, es sei definitiv jemand anderer für die Tat verantwortlich.

Vier Flugzeugentführungen - eine riesige Logistik war bei diesem Anschlag im Spiel. Wie viele Mittel braucht es eigentlich, um eine solche Aktion durchführen zu können?

Spillmann: Es wurde immer wieder gesagt, es brauche sehr viel Geld. Aber ich bin da nicht so sicher. Denn der Kreis der beteiligten Personen dürfte sehr klein sein, und es wurde keine extrem teure Ausrüstung gebraucht; offensichtlich war nicht einmal Sprengstoff im Spiel. – Die Flugzeuge selber wurden ja als Bombe benützt. Die Täter mussten sich hingegen sehr gut in den modernen Systemen der Industriegesellschaft auskennen. Sie mussten herausfinden, wie mehrere Flugzeuge gleichzeitig in ihre Gewalt gebracht werden können: Das benötigte eine langfristige, minutiöse Planung einer Gruppe von eng verschworenen Terroristen.

Ist es möglich, eine solche Tat ohne logistische Basis in den USA durchzuführen?

Spillmann: Das ist unklar. Jedenfalls braucht es eine hochprofessionelle Organisation – wie weit verzweigt, muss Gegenstand genauer Untersuchungen sein. Sehen Sie: Das ist die Schwäche jeder offenen Gesellschaft, in der wir ja leben wollen; Gesellschaften, die sich nicht wie Afghanistan vollkommen nach Aussen abschotten. Diese Offenheit schliesst Gefahren ein, welche von ihr in negativem Sinn profitieren wollen.

Wie war es möglich, das hoch geschützte Pentagon dem Angriff so ausgeliefert war?

Spillmann: Das US-Verteidigungsminbisterium ist gar nicht so gut geschützt wie man meint. Nur ein innerster Kreis des Komplexes unterliegt besonderen Sicherheitsvorkehrungen.

Wurde durch den Angriff der "Mythos", die Geheimdienste wie Mossad oder CIA könnten vor solchen Attacken rechtzeitig warnen, zerstört?

Spillmann: Ja und nein; ja, weil die Geheimdienste hier offensichtlich nichts ausrichten konnten. Auf der anderen Seite sind das jene Institutionen, die weltweit laufend Informationen über allfällige Bedrohungen zusammentragen. Daraus konkrete Handlungsanweisungen abzuleiten, ist allerdings sehr schwierig.


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prof kurt r spillmann
Kurt R. Spillmann, Professor für Sicherheitspolitik an der ETH. gross

Welches könnten die Folgen für die US-Sicherheitspolitik und die Sicherheitspolitik der Welt sein?

Spillmann: Es wird kurzfristig zu einer massiven Erhöhung der allgemeinen Sicherheitsvorkehrungen kommen. Wir haben eine Schwelle überschritten. Eine qualitative Änderung hat sich vollzogen. Der klassische Krieg zwischen Armeen, Staaten und Soldaten ist zwar weiterhin eine Möglichkeit. Aber neue Formen von Gewaltkonflikten zwischen extrem ungleichen Kontrahenten, nämlich kleinsten Gruppierungen von rücksichtslosen und zu allem entschlossenen Terroristen stehen Millionen von Menschen, ganze Staaten und Zivilisationen entgegen. Das bedeutet, dass Sicherheitskonzepte fundamental überdacht werden und neue Dimensionen gewinnen müssen, die nur kooperativ, in Zusammenarbeit zwischen allen Staaten dieser Welt erreicht werden können.

Was ist langfristig zu tun, um solche Anschläge zu verhindern?

Spillmann: Solche Anschläge können nur verhindert werden, wenn wir den Terrorismus an seinen Wurzeln bekämpfen. Er ist wie eine Giftpflanze, die in den letzten Jahren aufgetreten ist, und von der wir noch nicht recht verstehen, in welchem Erdreich sie wirklich gedeiht. Wir müssen die psychologischen Hintergründe dieser modernen "Märtyrer?" (so verstehen sie sich selbst) in ihren Motivationen besser verstehen. Auch müssen wir jene Lebensumstände nach Möglichkeit zu beseitigen trachten, die grössere Massen von Menschen, wie in vielen Entwicklungsländern oder Schwellenländern, derart zur Verzweiflung treibt, dass sie für die Verführungen psychopathischer Fundamentalisten zugänglich werden. Aber all das erfordert grosse Anstrengungen der Wissenschafter, der Politiker und der Sicherheitsplaner auf allen Stufen und in allen Bereichen. Die Probleme sind längerfristig nicht mit "quick fixes" zu lösen.


Zur Person

Kurt R. Spillmann ist ETH-Professor für Konfliktforschung und Sicherheitspolitik und Titularprofessor für Neuere Geschichte, insbesondere Geschichte der USA, an der Universität Zürich. Er leitet das CIS (Center for International Studies) in Zürich als Geschäftsführer seit dessen Gründung im Jahr 1997. Zwischen 1987 und 1995 war er Vorsteher der Abteilung für Militärwissenschaften an der ETH. Spillmann hat verschiedene Bücher und zahlreiche Aufsätze aus den Bereichen Amerikanische Geschichte, Amerikanische Aussen- und Sicherheitspolitik, Schweizer Sicherheitspolitik und Konfliktforschung verfasst oder herausgegeben und ist unter anderem Herausgeber der Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik und Konfliktforschung. Kurt R. Spillmann ist insbesondere ein von den nationalen TV- und Radiosendern sehr gefragter Experte für Sicherheitsfragen.




Literaturhinweise:
Ein ETH-Life-Interview zum Drama in den USA mit Andreas Wenger, Assistenzprofessor für Sicherheitspolitik an der ETH, finden Sie unter: www.ethlife.ethz.ch/tages/show
Aktuelle Informationen zur Terrorattacke auf der Homepage des International Relations and Security Network (ISN) am Zentrum für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung der ETH Zürich: www.isn.ethz.ch/infoservice



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